Predigt am 12. November 2023 – drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

Text: Röm 8, 18–25 „Hoffen, was wir nicht sehen“

 


 

Liebe Gemeinde,

 

hoffen heißt, etwas erwarten und ersehnen, was man nicht sieht. So jedenfalls definiert es Paulus in seinem Brief an die Römer. Hoffnung richtet sich auf etwas Zukünftiges, und zwar etwas Positives, das kommen wird, das unter uns wirklich werden wird. Was mich an seiner Textpassage fasziniert, ist die Gewissheit, mit der Paulus das Zukünftige erwartet. Er ist davon überzeugt, dass die Leiden dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen angesichts der Herrlichkeit, die an uns offenbar, also wirklich werden wird. Denn auch wenn wir unter den Belastungen und Nöten dieser Zeit seufzen und die Fakten eine schlechte Prognose voraussagen, haben wir den christlichen Geist, als Erstlingsgabe einer guten Zukunft, als unerschütterliche Hoffnungskraft. Durch ihn haben schon jetzt Teil an einem neuen Sein, an dem neuen Leben der Kinder Gottes.

 

Starke Worte – die muss man erstmal herunterbrechen auf das, was wir erleben, erleiden, erhoffen. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf, liebe Gemeinde? An was müssen Sie denken, wenn sie sich die Leiden dieser Zeit bewusst machen? Worüber mussten Sie in der vergangenen Woche seufzen? Über etwas persönliches? Über etwas Allgemeines, Politisches? Was gab, was gibt ihnen trotz allem Hoffnung?

 

Als ich die Passage des Paulusbriefes las, blieb ich an den Worten „Seufzen, Sehnen, ängstliches Harren“ hängen, und ich sah die grausamen Bilder des Terrors in Israel vor mir, die brutalen, menschverachtenden Gräueltaten der Hamas, die mich noch immer fassungslos machen. Die Dimension der Gewalt ist so unbegreiflich, so unmenschlich, und das Leid der Angehörigen unermesslich. Die Verzweiflung und Angst der Juden in Israel und seitdem in vielen anderen Ländern dieser Welt sind mit Händen zu greifen, die Tränen, die Klage, die Rufe um Hilfe und Rettung, sie sind noch nicht verklungen. Denn noch immer befinden sich 240 Geiseln in der Gewalt der Terroristen und noch immer besteht entgegen allen Schreckensmeldungen die Hoffnung, sie zu befreien. Unsere Hoffnung richtet sich auf die von Gewalt und Gegengewalt betroffenen Menschen in Gaza, die keine medizinische Versorgung mehr haben und denen das Nötigste fehlt.

 

Von dem jüdischen Philosophen Ernst Bloch stammt der Satz: Wenn wir aufhören zu hoffen, kommt das, was wir befürchten, bestimmt. Genauso kommt es mir vor. Dieser Angriff sollte die Bemühungen um Frieden und Hoffnungen auf Versöhnung in der Region endgültig zerstören und den Hass zur obersten Maxime des Handelns erklären. Aber das wird ihm nicht gelingen, denn die Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit ist mächtiger als alle Versuche, den Menschen zu unterdrücken. Die Hoffnung trotzt dieser Wirklichkeit.

 

Vor drei Tagen haben wir der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialistische Diktatur, im 3. Reich gedacht und uns nochmal dazu bekannt, welche Schuld wir Deutschen damals auf uns geladen haben und dass so etwas nie wieder geschehen darf. Die vielen Blumen und Kerzen auf den Stolpersteinen u.a. im Grindelviertel sind Zeichen dieser Erwartung und Hoffnung. Vor der Hauptkirche St. Petri haben wir Mittwoch 200 leere Stühle mit den Fotos der Geiseln aufgestellt und zusammen mit dem Rabbiner für ihre Rückkehr gebetet. Wir geben sie nicht auf, wir kämpfen für sie, wir beten für sie, gestärkt von einer Hoffnung, die größer und stärker ist als die Leiden dieser Zeit. Und selbstverständlich gelten unsere Gebete den Bedrohten und Geschundenen, den Trauernden und Seufzenden auf beiden Seiten des Krieges, in Israel und in Gaza.

 

Ein zweiter Gedankengang: Paulus schreibt, die ganze Schöpfung seufzt und liegt in Wehen, weil alles Leben auf Erden endlich und vergänglich, verletzlich und zerbrechlich ist. Und wieder denke ich, wie aktuell sind diese alten Texte doch: Das ängstliche Harren der Schöpfung kehrt wieder in den sterbenden Wäldern, der sterbenden Tierwelt, den extremen Trockenzeiten hier und den Überflutungen dor … Die ganze Schöpfung sehnt sich und seufzt, und – welch ein Bild – liegt in den Wehen. Wer schon Mal Wehen erIebt hat, liebe Gemeinde, der weiß, dass es kaum etwas Schmerzvolleres im Leben gibt. Aber er bzw. sie weiß auch, dass diese Schmerzen in ein unbeschreibliches Glücksgefühl münden, wenn man nach der Geburt ein kleines Neugeborenes im Arm hält. Mit einem Mal sind sie verflogen und Neues ist geworden, ein Kind des Himmels, ein Kind Gottes. Die Hoffnung auf eine andere, eine neue, eine bessere Zukunft hat sich erfüllt. Was wir zuvor nicht sehen konnten, sondern nur ersehnten, liegt nun in unseren Armen.

 

Wir sind gerettet auf Hoffnung hin, und hoffen auf das, was wir nicht sehen, schreibt Paulus: Gemeint ist die Hoffnung auf Auferstehung, auf ein Leben nach dem Tod, auf die Freiheit und den Frieden, den Gott uns in seinem himmlischen Reich verheißt. Dies schreibt er an die Christen in Rom, die sich in der 2. Hälfte der 50ger Jahre meist noch heimlich trafen, überwiegend arme Menschen, freigelassene Sklaven, aber wohl auch frei Geborene, römische Bürger. Sie zogen ihre Hoffnung als Christen gewiss nicht aus dem Handeln des römischen Imperators, sondern aus der Verheißung der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Sie konnten diese Freiheit nicht sehen, aber sie vertrauten darauf, dass sie unter ihnen wachsen würde.

 

Und diesen schönen Gedanken des Paulus möchte ich heute Morgen gern an Sie und Euch weitergeben, liebe Gemeinde: wenn wir aus Hoffnung leben, dann ist das Reich Gottes schon mitten unter uns. Dann beginnt der Friede, den wir ersehnen, schon zwischen uns zu wachsen. Dann bricht sich ein Licht durch die Dunkelheit, dann fängt die gute Zukunft an. Es ist noch Nacht, aber wir reden schon vom anbrechenden Tag. Es ist noch Waldsterben, aber wir pflanzen neue Bäume und lernen täglich dazu, wie wir die Schöpfung schonen können. Es ist noch Krieg, aber wir planen und unternehmen Schritte, die zum Frieden führen. Es ist der Tod noch allgegenwärtig und geliebte Menschen sterben, doch im Glauben geht niemand verloren, sondern wird zu einem neuen Leben erweckt durch Christus.

 

Von Immanuel Kant stammt der wunderbare Satz: Der Himmel hat dem Menschen als Gegengewicht zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben: Die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen. Alles drei scheint mir lebenswichtig: Ohne Hoffnung können wir nicht leben, ohne Schlaf auch nicht, und ohne das Lachen erst recht nicht.

 

Das Lachen der Kinder, die Freude der Geretteten, das Glück der Liebenden, all das lässt unsere Hoffnung nicht versiegen und stärkt die Zuversicht. Das sind kraftvolle Gegenbilder zu denen der aktuellen Nachrichten – und die brauchen wir, um sehnsüchtig und widerständig zu bleiben, um uns gegenseitig Mut zu machen, um Kraft zu schöpfen, um aufzustehen für den Frieden und die Gerechtigkeit, um an den Gott der Hoffnung zu glauben.

 

Was Hoffnung bewirken kann, zu welchen Veränderungen sie ermutigt, das zeigt übrigens auch die Ausstellung, die wir gerade in St. Katharinen präsentieren, mein 3. und letzter Versuch einer Annäherung an Paulus Hoffnungstheologie. Die textile Installation besteht aus 58 überlebensgroßen, kunstvoll genähten Portraits von Frauen und trägt den Titel: You may recognize yourself – zu deutsch: du könntest dich entdecken, wiedererkennen.

 

Die Portraits sind aus antiker Weißwäsche genäht, die die Künstlerin Kerstin Bruchhäuser gesammelt hat: Aussteuerwäsche, die den Frauen früher mit in die Ehe gegeben wurde. Darauf hatten unsere Mütter und Großmütter ein Anrecht, nicht auf eine Ausbildung, aber auf eine Aussteuer. Erst 1958 änderte sich das mit dem ersten Gleichberechtigungsgesetz, daher 58 Portraits. In wie vielen Ländern aber hoffen und warten Frauen noch heute darauf, dass sie einen Beruf oder einen Ehemann frei wählen und selbstbestimmt leben dürfen? Sie hoffen auf etwas, was sie noch nicht sehen, aber was in ihren Herzen und Sinnen schon anbricht. So wie vor 65 Jahren in Deutschland und vor 2000 Jahren in Rom.

 

Die portraitierten Personen drehen den Betrachtern allesamt den Rücken zu. Man sieht die Frauen nur von hinten, wie sie nach vorne gehen, voranschreiten, auf dem Weg sind, und man fragt sich unwillkürlich: Könnte ich das sein? Wo gehe ich hin und mit welchen Erwartungen, mit welchen Hoffnungen? Auf Frieden, auf Freiheit, auf Liebe, auf Gesundheit, auf ein ewiges Leben?

 

Vielleicht ja auch darauf, dass der Mandelzweig wieder blüht, der Krieg versiegt und die Liebe bleibt. Amen.

 


 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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