Predigt am 12. Februar 2023 – Sonntag Sexagesimä

Pastor Frank Engelbrecht

Kantaten-Gottesdienst
„Es ging ein Sämann aus“ SWV 408 – Heinrich Schütz (1585–1672)
„Leichtgesinnte Flattergeister“ BWV 181 – Johann Sebastian Bach (1685–1750)

 


 

Die Gnade des Vaters, die Liebe unseres Herrn und Bruders Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

 

„Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Viermal wiederholt Heinrich Schütz dieses Wort Jesu aus dem Evangelium des Lukas in seiner Symphonia Sacra zum Gleichnis vom Sämann, der auszog zu säen. Damit macht Schütz diesen Aufruf zu einem Refrain, den er uns beim Hören der Musik nach jeder Strophe mit großer Emphase in mehrfachem Wechselspiel von Chor und Solisten einschärft: „Hör zu und gib acht, dass Dein Herz nicht die Saat Gottes zertritt, verdorren lässt oder erstickt, höre stattdessen auf Gott, damit sein Wort in Dir aufgehen kann wie eine gute Saat!“

 

Bei Lukas dagegen erklingt das „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ nur einmal, und zwar Am Ende des Gleichnisses. Damit verschiebt sich die Bedeutung. Bei Schütz stehen die Verwerfungen von Zertreten werden, Verdorren und Ersticken dem Aufblühen gegenüber. Bei Lukas sind Verwerfung und Aufblühen dagegen umfangen von derGroßzügigkeit und dem Vertrauen des Sämanns, der auszieht, mit weit ausladender Geste fröhlich seinen Samen zu säen. „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Das heißt bei Lukas: seht, wie inmitten all der Vergeblichkeit das Leben sprießt. Und lasst euch deshalb Eure Ohren nicht verstopfen vom Lärm der Zerstörung, auch nicht von Rückschlägen, Verbitterung und Erschöpfung, wenn die Saat Eures Lebens wachsen will, aber nicht durchkommt, wie die Wahrheit in unseren Zeiten, die sich immer wieder schwer tut, sich Gehör zu verschaffen inmitten des Brüllens, der Kakophonie oder der verführenden Rede von Fake News, Verschwörungstheorien oder merkwürdig zusammengeschraubten Wahrheiten. Kennt Ihr das? Wenn die gleichen Fakten sich bei den einen und den anderen zu ganz unterschiedlichen Weltsichten zusammenfügen. Mit einem Male tun sich selbst zwischen besten Freunden auf Gräben auf.

 

Unerträgliches Nebeneinander und Durcheinander; Wachsen und Unterdrücken, Gedeihen und Zertrampeln durchwirken einander und alles ist verwoben: Behindern und Fördern, Zärtlichkeit und Grausamkeit, Wehrhaftigkeit und Gewaltlosigkeit in Krieg und Frieden, Leben und Sterben. Wer befreit uns aus diesen Widersprüchlichkeiten? Ambivalenz heißt das Fachwort, wenn wir gefangen sind in Gegensätzen, wie solchen, dass wir Trost spenden sollen in Momenten der Untröstlichkeit – so wie hier vor unserer Haustür, als am Montag in der vorvergangenen Woche in der HafenCity eine 34jährige Frau auf Fahrrad beim Unfall mit einem LKW zu Tode kam. Sie war auf ihrem Weg, ihr Kind aus der Kita abzuholen. Oder wie in der Türkei und in Syrien, wo uns die Bilder aus dem Erdbebengebiet erschrecken. Wir jubeln über jeden einzelnen Menschen, welchen die Rettungskräfte aus den Trümmern des Erdbebens bergen, und wir sind mehrfach berührt, wenn ein Kind Rettung erfährt, die Babies. Zugleich kommen wir wie die Menschen vor Ort und weltweit nicht hinterher mit Schrecken und Trauer über die zehntausenden, die verschüttet bleiben. Gestern noch war alles Gut, Leben blühte; kaum einen Augenaufschlag später ist alles verloren, zerstört.

 

Wie fangen wir diese Widersprüchlichkeiten ein? Eine Möglichkeit: wir suchen nach Schuldigen und Verantwortlichen und stabilisieren uns, indem wir moralischen Grund unter den Füßen bekommen. So lässt sich auch das Gleichnis vom Sämann lesen, und so ist es auch immer wieder gelesen worden. Auch bei Lukas selbst. Wer in Kapitel 8 Weiterliest findet eine entsprechende Deutung des Gleichnisses. Das geht dann so: Der Same ist das Wort Gottes, und die verschiedenen Felder sind die Menschen. Die einen zertreten die Saat, lassen sie verdorren und ersticken. Bei den anderen geht die Saat auf. „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ heißt dann: „Mensch, verstocke Dein Herz nicht, sondern schlage Dich auf die richtige Seite, damit es Dir gut ergehe, in der Zeit oder wenigstens in der Ewigkeit.“ Oder mit Worten aus dem Lied „Ermutigung“ von Wolf Biermann, das mir beim Nachsinnen über den heutigen Gottesdienst immer wieder gekommen ist: „Du, lass dich nicht verhärten / In dieser harten Zeit / Die allzu hart sind, brechen / Die allzu spitz sind, stechen / Und brechen ab sogleich. / Und brechen ab sogleich.“ Klingt gut. Alles richtig. Daran kann ich mich halten. Also: Seid gute Menschen. Übt Frömmigkeit. Gehet hin in Frieden. Amen

 

Aber damit sind wir doch noch nicht am Ende. Biermanns Lied ist wunderbar und die Aufforderung, dass wir an Aufrichtigkeit und Menschlichkeit festhalten, soll nie verstummen. Aber alles das hält im Zweifel nicht Stand wider die drückende Kraft der Widersprüchlichkeit unseres Lebens. Was nützt es dem Kind, das in der Kita vergeblich auf seine Mutter wartete? Was nützt es dem Vater, der seine Frau verlor? Was hilft es denen, die ihr Leben in den Tagen des großen Erdbebens einbüßen? Was nützt es ihnen und uns, dass wir Schuldige bestimmen, Verantwortliche dingfest machen und beschließen, Fehler in Zukunft zu vermeiden? Es kann sein, dass es soweit hilft, als es einen Funken Genugtuung spendet und die Suche Gerechtigkeit stützt - aber was sie verloren haben und unendlich und erträglich vermissen, bringt keine moralische Aufrechnung zurück. Das spricht nicht gegen die moralische Bewertung und Aufarbeitung, zeigt aber ihre Grenzen auf. Die Moral lässt wenigstens zwei Lücken: Die eine Lücke entsteht in den Momenten unseres Lebens, die sich der Moral entziehen, so wie in Krankheit oder Naturgewalten. Dazu kommt als Zweites, dass in der Moral selbst Ambivalenzen eingebaut sind. Nehmen wir als Beispiel die Frage: Was ist ein guter Mensch? Der, der den Frieden predigt, Feindesliebe statt Gewalt? Oder der, der dem Schwachen beispringt und ihm das Leben rettet, in Zweifel mit Gewalt?

 

Aus dieser Zwinge moralischer Ambivalenz entlässt uns kein kein moralisches Prinzip, sondern nur die Verantwortung, die wir übernehmen. Wer aber Verantwortung übernimmt und sich entscheidet, löst Ungerechtigkeit und Schuld nicht auf, sondern nimmt Ungerechtigkeit und Schuld auf sich. Das haben wir in der Frage nach der Triage aus den Zeiten von Corona erlebt. Das war die Frage, wem ich im Zweifel als erstes helfe, und wen ich im Zweifel dem Verderben überlasse, wenn es hart auf hart auf der Corona-Station kommt. Diese Frage kann ich nicht beantworten, wenn meine erste Sorge gilt, wie ich meine eigene Weiße Weste rein halte und am Ende fehlerfrei dastehe. Dafür bin ich vielmehr aufgefordert, den Blick zu heben und ins Zusammenspiel zu gehen und um Wahrheit zu ringen: mit Gott und der Welt und den Menschen, auf die ich verwiesen bin. Nicht meine eigene Integrität ist der Schlüssel zur Befreiung, nicht die Frage, ob ich alles richtig mache und unbescholten bleibe, sondern ob es mir gelingt, dass ich mich in freier Verantwortung zu dem hin bewegen lasse, was mir in meinem Leben aufgegeben ist. Das heißt: Raus aus den eigenen vier Wänden, hinein in die Welt, geistlich gesprochen: hin zu Gott.

 

In dieser Bewegung, in der Öffnung zur Welt hin zu Gott, tritt die bereits erwähnte andere Lesart des Gleichnisses vom Sämann zu Tage. In dieser Lesart steht nicht die Frage nach der Moral im Vordergrund, sondern das Staunen darüber, dass inmitten von massiver Unwirtlichkeit das Leben blüht. In dieser Lesart, liegt der Schwerpunkt des Gleichnisses nicht darin, dass es Vergeblichkeit und Erfolg gegenüber stellt, sondern darin, dass es Freude und Leid einbettet in die ansteckende Großzügigkeit des Sämanns. Um im Bild zu bleiben: Anders als beim Effektivitätswahn industrieller Landwirtschaft, in der wir jeden Millimeter Acker auszunutzen suchen und alles richtig machen wollen, indem wir unser Feld düngen und mit Unkrautvertilgungsmitteln und Pestiziden gegen Schädlinge präparieren, ganz anders der Sämann aus unserem Gleichnis. Der schlendert über das Land und teilt unbesorgt und mit vollen Händen seine Saat aus. Ich stelle mir vor, wie er dabei ein Lied singt, den Psalm beispielsweise, den wir am Anfang dieses Gottesdienstes gesungen haben: „Wohl denen, die da wandeln …“

 

Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Großzügigkeit und Vertrauen statt Effizienz und Kontrolle. Die zeigen sich im Gleichnis nicht erst am Ende, wenn die Saat des Sämanns aufgeht, sondern sind vom Anfang bis zum Ende gegenwärtig und bestimmen den Gang der Erzählung in der Bewegung des Sämanns, der voller Vertrauen mit großzügig Geste über das Land geht und seinen Samen sät.

 

Die Kantate Bachs zeichnet diese Bewegung nach, indem sie musikalisch das Ringen des Segens mit den „Leichtgesinnten Flattergeistern“ zum Klingen bringt. Das sind auf der Textebene die Kräfte, die uns das Herz verhärten, so dass wir nicht vordringen zum Staunen und zur Demut angesichts des Wunders der Schöpfung und ihrer Großzügigkeit inmitten der Verwerfungen unseres Lebens. Dieses Wunder und das fröhliche Staunen feiert die Kantate im Abschließenden Chorsatz, der mit Trompetenkonzert und Jubelchor die Erlösung feiert.

 

Auf der Textebene bleibt die Kantate freilich immer wieder auch hinter dem Gleichnis zurück, wenn die Partitur der Versuchung erliegt, in einer moralischen Zweiteilung stecken zu bleiben. Dazu ist allerdings zu sagen, was ich bereits in der Begrüßung erwähnt habe: die Kantate war nach Bachs Planungen vermutlich nicht dazu gedacht, allein im Gottesdienst zu erklingen. Nicht zufällig ist sie eher kurz. Die Forschung geht davon aus, dass die Kantate zusammen mit der Kantate „Gleich wie Schnee und Reigen vom Himmel fällt“ (BWV 18) erklingen sollte. Diese Ergänzung haben wir heute nicht gehört, aber sie ist indirekt doch zugegen. Denn diese zweite Kantate bezieht sich auf den Text des Jesaja, den heutigen Predigttext. Dieser Gesang des Propheten lässt sich freilich kaum predigen, weil er in seiner poetischen Kraft gleichsam für sich steht. Er lebt von der Musik, die in seinen Zeilen klingt. Diese Musik schlägt eine Melodie an, die wunderbar ins Zusammenspiel mit der Weise geht, in der das Gleichnis Jesu den Sämann sorglos über Stock und Stein tanzen und seine Saat ausstreuen lässt. Hört nur her: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! 3 Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!“

 

Dieser Gesang erklärt nicht unser Leid und bringt unsere Klage über Ungerechtigkeit und Not nicht zum Schweigen. Stattdessen will er uns in Schmerz und Freude umfangen und uns mit seiner Verheißung dazu verlocken, dass wir Großzügkeit und Vertrauen bewahren - in Freude und in Not - und dass wir einander und uns selbst davor bewahren, auf die Härte des Lebens und auf auf die Unerbittlichkeit des Todes so zu reagieren, dass wir uns selbst verhärten und verbittern. Nochmals Wolf Biermann: „Du, lass dich nicht verhärten / In dieser harten Zeit / Die allzu hart sind, brechen / Die allzu spitz sind, stechen / Und brechen ab sogleich.“

 

Aber was ist die Alternative zur Härte, wenn Härten uns treffen? Wie bleiben wir wehrhaft, wenn unser Leben in Bedrohung steht? Die Alternative, die Jesaja und das Gleichnis Jesu uns ans Herz leben, lautet: „Haltet inmitten aller Verwerfungen - der Großen und der Kleinen – am Glauben fest, dass vor Gott die Gegensätze von Wachsen und Vergehen, Tod und Leben nicht auf Augenhöhe stehen. Zwischen ihnen besteht vielmehr ein Ungleichgewicht. Denn im Glauben ist alles, unser Leben und unser Sterben, umfangen von der Schöpferkraft des lebendigen Gottes. Von Anfang bis zum Ende der Welt zerbricht der Tod immer wieder neu am Leben, und nicht umgekehrt.“

 

In den Worten unserer Kantate, welche die Stimme des Alt singt: „Es wirkt ja Christi letztes Wort, / Dass Felsen selbst zerspringen; / Des Engels Hand bewegt des Grabes Stein, / Ja, Mosis Stab kann dort / Aus einem Berge Wasser bringen.“ Daran schließt die Kantate die Frage an: „Willst du, o Herz, noch härter sein?“ Antwort: Nein, selbstverständlich nicht! Stattdessen wollen wir, soweit es in unserer Macht steht und mit Gottes Hilfe, unser Herz offen halten, verletzlich bleiben, fehlerfreundlich und dahinstarb und von großer Güte, auch wenn wir immer wieder verzweifeln, weil wir nicht verstehen: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, 9 sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“ Aus diesem Abstand folgen aber nicht etwa Willkür und Gewalt wie bei den Gewaltherrschern dieser Welt, die sich anmaßen, das Gesetz selbst zu sein oder sich an die Stelle Gottes zu setzen - dagegen stehen dieser Tage die Frauen im Iran unter Eisatz ihres Lebens auf; ganz in diesem Sinne folgt aus dem Abstand, den Gott bei Jesaja formuliert, also keine Willkür, sondern Mut zu frechem Widerstand im Namen des Gottes, der Mensch wurde, um unsere Menschlichkeit aufzurichten, Gastfreundschaft zu üben, sich zu verschwenden selbst in höchster Not, mit Verbrechern, Wucherern und sonstigem Abschaum ebenso an einem Tisch zu sitzen wie mit Freunden und mit allen ausgiebig das Fest des Lebens zu feiern, dabei die Rechte der Kinder zum Herzstück seiner Botschaft zu machen und in alledem die Schöpfung als Buch Gottes zu lesen, das uns von der überschwänglichen Lebensfreundlichkeit Gottes erzählt, die uns im Leben und im Sterben umfängt: „Ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden. Berge und Hügel sollen vor euch her frohlocken mit Jauchzen und alle Bäume auf dem Felde in die Hände klatschen.“

 

Übrigens, zum Abschluss noch eine Entdeckung, die ich gemacht habe: auch das Lied „Ermutigung“ von Wolf Biermann endet mit einem Verweis auf Natur und Schöpfung. In der letzten Strophe seines Gesangs bettet Biermann seinen wunderbaren moralischen Impuls „Du, lass dich nicht verhärten“ in das Bild vom Grün ein, das aus den Zweigen bricht. Damit bindet Biermanns Lied die Sehnsucht nach bleibender Menschlichkeit – ähnlich wie Jesaja und wie Jesus im Gleichnis bei Lukas - zurück an die Kräfte, die im Universum und auf dieser Welt das Leben wachsen lassen: mitten zwischen Steinen, Dornen und Hitze findet das Leben doch immer wieder neuen guten Grund. Die Saat der Menschlichkeit geht auf und trägt „hundertfach Frucht“.

 

Das ist die Hoffnung der Musik, dass Untröstlichkeit und Sprachlosigkeit umschlagen, die uns angesichts eigener Not und Not an allen Ort dieser Welt packen, und dass wir doch wieder Worte finden, mehr noch: Melodie, Lied, Musik, Gesang. In der Ermutigung von Wolf Biermann klingt das so: „Wir wollʹn es nicht verschweigen / In dieser Schweigezeit / Das Grün bricht aus den Zweigen / Wir wolln das allen zeigen / Dann wissen sie Bescheid /Dann wissen sie Bescheid!“

 

Soweit Jesaja, Lukas und Wolf Biermann. Jetzt lasst uns hören, wie Bachs Kantate diese Zuversicht, diese Hoffnung und diesen Glauben musiziert. „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Amen!

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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