Predigt am 26. März 2023 – Literaturgottesdienst am Sonntag Judica

Pastor Frank Engelbrecht

„Das alte Haus an der Gracht“
zum Bilderbuch von Thomas Harding und Britta Teckentrup

 


 

Die Gnade des Vaters, die Liebe unseres Herrn und Bruders Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

 

„Vor langer Zeit war hier ein Stück feuchtes Marschland. Mit ein paar Kühen. Einem Reiher. Einer Familie von Feldmäusen. Und am Himmel darüber flog ein Schwarm von Möwen. Es war ein stiller glücklicher Ort“. (Thomas Harding/Britta Teckentrupp : Das alte Haus an der Gracht, S. 6)

 

Mit dieser Landschaftsbeschreibung beginnt das Buch „Das alte Haus an der Gracht“ in Amsterdam. Ebenso mag es hier bei uns ausgesehen: auf der Insel Grimm um das Jahr 1250, bevor die Hamburger begannen, ihre Stadt nach Süden auf die Inseln Grimm und Cremon und den großen Graßbrook zu erweitern, den Grundstein zu unserer St. Katharinenkirche zu legen und das umliegende Land zu erschließen, mit Fleeten, Grachten nennen sie die in Holland, welche die Stadt wie Lebensadern durchzogen, Straßen, Häusern, Befestigungsanlagen. Die Baumeister, die dabei über die Jahrhunderte Hand anlegten, kamen, kamen wie beim alten Haus an der Gracht in Amsterdam, zu weiten Teilen aus Holland. Die Neue Gröninger Straße nebenan erzählt noch davon, und auch die Gröninger Brauerei; es war nicht zuletzt auch das Geld der Bierbrauer, welches das Wachsen des Hafens und der Stadt und auch St. Katharinens finanzierte: mit dem schönsten Turm der Stadt. Seitdem gehört das Läuten ihrer Glocken zum Klang dieser Stadt an der Elbe, jede viertel Stunde: DONG DONG DONG DONG. Nur wenige Gelegenheiten sind mir bekannt, an denen die Glocken schwiegen: dazu gehört die Zeit der Sanierung unserer Kirche zwischen 2007 und 2012; davor im Feuersturm des zweiten Weltkrieges, als Hamburg 1943 lichterloh brennt und ebenso St. Katharinen: acht Tage bei 1000 Grad. Da stürzt der Turmhelm ins Kirchendach und die Glocken stürzten ab. Zur gleichen Zeit verlassen nur einen Steinwurf weiterhin Züge den Hannoverschen Bahnhof in Richtung Osten. In den Waggons sitzen zusammengepfercht Juden, Sinti und Roma, Männer, Frauen
Kinder. Zwischen 1940 und 1945 deportieren die Nationalsozialisten 7692 Personen: „Sie stahlen die Träume der Menschen.“ Schreibt Thomas Harding. Den geraubten Träumen folgte der Raub des Lebens. Weniger als 1000 überlebten die Deportation in die Ghettos und Konzentrationslager von Lodz, Minsk, Riga und Theresienstadt oder in die Vernichtungslager von Auschwitz-Birkenau, Bełżec.

 

Mag sein, dass einer der Deportierten aus Hamburg dort, in Auschwitz, Anne Frank begegnet ist. Denn dorthin verschleppen sie ihre Peiniger, nachdem die Polizei das Versteck von Anne und den ihren ausgehoben hat. 1943, im Jahr des Feuersturms in Hamburg, sitzt sie noch in banger Erwartung auf Rettung in ihrem Versteck im Hinterhaus des alten Hauses an der Gracht, wie sie das Haus liebevoll nennt, in dem ihr Vater gerade erst 1940 einen Gewürzhandel eröffnet hat. Der Psalm dieses Sonntags könnte ihr Gebet in ihrem Versteck gewesen sein, das ihr Schutz und Gefängnis zugleich war: „Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir. / Eine Tiefe ruft die andere; / und ich bete zu dem Gott meines Lebens: / Hast du mich vergessen? / Warum muss ich so traurig gehen, / wenn mein Feind mich drängt?“

 

Versteckt im Hinterhaus des alten Hauses an der Gracht halten Anne Frank und ihre Lieben fast zwei Jahre aus. Sie üben Widerstand, indem sie sich nicht ergeben, sich nicht ausliefern, sondern verstecken und um ihr Überleben kämpfen. Davon zeugt Annes Tagebuch, das den Krieg überlebte. Davon erzählt das Haus, das die Bildergeschichte „Das alte Haus an der Gracht“ uns vorstellt, als hätte das Haus eine Seele und ein Herz. Das Haus zittert vor Kälte und Einsamkeit, es ist erfüllt von Liedern und Freude, aber es ist auch wieder so traurig, dem Tode nahe, und doch: es lebt heute wieder und bewahrt Annes Träume von einem goldenen Morgen: „Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“

 

Davon zeugt dieses Haus. Um das zu schildern und zu bebildern, holt das Bilderbuch weit aus und erzählt die Geschichte des Hauses ganz von Anfang an. Zu diesem Anfang gehört auch die Zeit vor allem Häuser- und Städtebau. Damit öffnet das Bilderbuch unseren Blick dafür, dass die Geschichte unserer menschlichen Kultur nicht aus sich selbst kommt, sondern von Beginn an und mit jedem Atemzug, den wir tun, eingebettet in die Welt, auf der wir leben, und die uns in den Weiten des Universums eine Insel der Lebensfreundlichkeit bereitet, die uns schützt und birgt vor Kälte, Strahlung, Hitze und Kälte des Weltenraums. Das ist die immerwährende Grundlage dafür, dass menschliches Leben und Kultur, Literatur, Musik, Handel, Stadt- und Hausbau Fuß fassen und sich entfalten können:

 

„Die Sonne ging auf. Die Kühe käuten das Gras wieder. Die Reiher suchten nach leckeren Fischen. Die Feldmäuse huschten und schnüffelten und huschten weiter. Die Möwen übten Sturzflug und kreischten. Und dann ging die Sonne wieder unter. So vergingen die Jahre, ohne dass sich viel änderte.“ (Thomas Harding/Britta Teckentrupp : Das alte Haus an der Gracht, S. 7)

 

Das klingt wie die Melodie unseres Kirchenkanons: „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang sei gelobet der Name des Herrn!“ Und ja, die Geschichte vom „Alten Haus an der Gracht“, die dann folgt, berichtet genau mit diesem Ringen um den Segen, der diesen Ort als Möglichkeit seit Urzeiten erfüllt. Ist das übertrieben? Nein: seht Euch um auf dieser Erde und in den Weiten des Alls: die Ödnis auf der Oberfläche des Mondes, die Wüste auf dem Mars oder die Lebensfeindlichkeit auf Saturn und Jupiter. Dagegen offenbart sich ein Ort wie das Marschland, auf dem später das alte Haus an der Gracht entsteht, wie ein ganz und gar unwahrscheinliches und unfassbares Wunder der Lebensfreundlichkeit. Dem steht auch nicht entgegen, dass wir dieses Leben immer wieder auch nur unter der Bedingung unserer Sterblichkeit und des stetigen Austauschs haben, darin, dass wir nicht nur für uns selbst, sondern immer auch auf Kosten anderer leben: Die Kühe auf Kosten des Grases, die Reiher auf Kosten der Fische, wir auf Kosten der Kühe und so weiter. In alledem, im Werden und Vergehen, Freude und Schmerz, Leben und Sterben und wieder Leben in verschwenderischer Fülle, scheint der Segen des Lebens auf, in dessen Mitte hinein die Menschen das schöne Haus und die Gracht bauen. Dieser Segen pflanzt sich über die Jahrhunderte fort in dem Haus, wenn wir das Lachen der Kinder hören, die im Haus spielen oder sich heimlich auf sein Dach schleichen. Der Segen scheint auf, wenn vielerlei Geschäft mit der dazugehörigen Phantasie und Schaffenskraft das Haus erfüllen, dazu Tanz, Liebe, aber auch Trauer und das Geschenk von Tränen mit der Fähigkeit, umeinander zu trauern und Mitleid und Mitfreude zu üben. An anderen Stellen droht der Segen zu verdorren, dann ist das Haus leer, oder es verkommt zum Pferdestall, einmal brennt es sogar - das alles kennt übrigens auch unsere Katharina. In der Zeit, in der Anne Frank hier Unterschlupf findet, erlebt das Haus Fluch und Segen zugleich: Den Fluch der Unmenschlichkeit, der mit dem Einmarsch der Deutschen Truppen 1940 Einzug hält, und der Segen des bergenden Verstecks im Hinterhaus und der mutigen Menschen, die unter Gefahr für ihr eigenes Lebens, das Versteck decken und die im Versteck gefangenen versorgen. Das ist wie in der Pestzeit. Da herrschte die Pest auf der Straße, und die Menschen mussten sich davor im Haus verstecken und durften nicht raus aus dem Haus, weil draußen die Pest wütete. Jetzt wieder!

 

„Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ (Markus 10,42-45)

 

Darin liegt der Unterschied von Fluch und Segen: über wir uns im Zusammenspiel, so wie die Wiese mit ihrem Wasser, dem Gras und den Tieren in Amsterdam, bevor die Gracht gelegt und das Haus errichtet war, oder wir hier in St. Katharinen auf der Insel Grimm, bevor die Fleete befestigt und St. Katharinen entstand. Oder steigen wir aus dem Spiel aus und streiten uns darum, wer denn hier am Wichtigsten sei, die gesteigerte Form ist, dass wir darüber urteilen, welches menschliche Leben als lebenswert gilt und welches wir dagegen der Vernichtung anhand geben. Halten wir inneren und äußeren Häuser unseres Lebens in Stand, oder geben wir sie auf, oder schlimmer noch, zünden wir sie an oder entfachen wir Krieg mit Feuerwaffen und Feuer vom Himmel: „Eines Tages dröhnte der Lärm von Lastwagen und Autos voller Soldaten durch die Straßen.“ Vollkommen widersinnig, immer schon, ob 1939 in Polen, 1940 in Amsterdam oder wie heute bei uns gleich nebenan seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine: „Polizisten und Soldaten hämmerten an die Türen: BUMM. BUMM. BUMM. Sie schrien, die Leute sollten herauskommen: ZACK, ZACK, ZACK! - Sie stahlen den Menschen die Träume.“ (Thomas Harding/Britta Teckentrupp : Das alte Haus an der Gracht, S. 31-32) Sie stehlen den Menschen die Träume: damals bis heute, und jeden Tag neu. Erst die Träume, dann das Leben und seine Behausungen. Daraus ziehen die Bilder brennender und zerbombter Städte, Tempel und Kirchen Coventry ihre erschütternde Macht: Stalingrad, Hamburg, Hieroshima, Nagasaki, Aleppo, Mariupol, Butcha, Bachmut. Der Schrecken und die Trauer beim Blick auf die Ruinen unzähliger Häuser und Straßen offenbaren, dass hier nicht bloß aufgehäufte Steine oder gegossener Beton in Schutt und Asche liegen. Jedes Haus, das Alten Haus an der Gracht in Amsterdam mit der Kirche nebenan oder hier in Hamburg St. Katharinen und ihre Nachbarschaft der Altstadt, aber auch die weniger malerischen Plattenbauten in anderen Städten - sie alle sind ein Zuhause nicht nur für unsere Körper, dass wir Essen trinken und schlafen und unsere Notdurft verrichten können.

 

Nein, die sind zugleich Zufluchtsorte und Heimstätten unseres Lebens mit Küche und Zimmern, in denen wir wohnen, spielen, lieben, streiten, schlafen, wachen, feiern. In alledem sind sie Speicherorte für unsere Sehnsucht und unsere Träume, für unsere Lebenslust ebenso wie für unsere Nachdenklichkeit, Debatte, Streit samt Verzweiflung und Versöhnung. Sie sind Zeugen der Momente unseres Lebens von Geburt bis zum letzten Atemzugs. Die Zerstörung von Städten mit ihren Häusern, Straßen, Parks und Landschaften zerstört also weit mehr als aufgehäufte Steine. Die Zerstörung von Städten zerstört Heimat für Körper und Seele. Sie vernichtet unzählige Schätze der Erinnerung und an Pläne und Ideen für eine lebenswerte und vor allem menschenfreundliche Zukunft mit Würde und Gerechtigkeit in Frieden.

 

In diesem Sinne könnten wir sagen, dass wir nicht nur in unseren Häusern, sondern das unsere Häuser selbst leben, so wie das alte Haus an der Gracht, das seufzt, lacht, lebt und stirbt und wiederauflebt. Aber selbst mit der Zerstörung hören unsere Häuser nicht auf, fortlaufende Speicherorte unserer Erinnerung zu sein. Die Ruinen stehen da als stumme Schreie zerstörten Lebens, sie klagen, klagen an und geben denen eine sinnbildliche Stimme, die hier vorzeitig aus dem Leben gerissen wurden und unter ihnen begraben liegen.

 

Aber bei diesen Schreien können wir nicht stehen bleiben. Die Erinnerung und Solidarität mit denen, die verloren gehen und um die wir trauern, diese Solidarität verlangt, dass wir ihre Erinnerung bewahren. Erinnerung aber nicht nur in unseren Köpfen und Herzen, sondern so, dass wir gegen die Zerstörung an arbeiten. Das beinhaltet, dass selbst mit anpacken und daran mitwirken, dass das Zusammenspiel wieder die Zerstückelung die Oberhand zurückgewinnt und uns beteiligen am gemeinsamen Ringen der Menschen auf und mit dem Planeten, der uns beherbergt: das Zusammenspiel und das gemeinsame Ringen um Wahrheit und das gute Leben im Aufstand wider die Zumutungen der Herrscher, die ihre Völker niederhalten, und wider die Gewalt der Mächtigen:

 

„Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“

 

Von diesem Widerstand im Namen des Zusammenspiels, das wir Leben nennen, erzählt das Bilderbuch vom alten Haus an der Gracht, und auch davon, wie dieser Widerstand Raum greift: in dem alten Haus im Herzen von Amsterdam und darüber hinaus bis an alle Enden der Erde, durch die Menschen, die das Haus besuchen, seine Geschichte hören, sich zu Herzen nehmen und weitererzählen. Hört nur:

 

„Der Vater des Mädchens arbeitete mit der Gemeinde zusammen, um das Haus zu putzen und zu renovieren. Sie reparierten das Dach und die festen Tannenholzböden und strichen die glänzenden Fenster und bauten eine neue grüne Tür ein. Heute kommen Menschen von nah und fern und besuchen das Haus. Sie erfahren von dem Mädchen mit dem lieben Lächeln und von ihrem Tagebuch, von dem Haus, in dem sie lebte, und von ihren Träumen von einem goldenen Morgen. Und die Kirchenglocken läuten wieder DONG DONG DONG DONG, vielmal pro Stunde.“ (Thomas Harding/Britta Teckentrupp : Das alte Haus an der Gracht, S. 43-44).

 

Amen.

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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