Predigt am 23. Mai 2021 – Pfingstsonntag

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

Vom Turmbau zu Babel – 1. Mose 11, 1-9

 

Liebe Gemeinde,

 

ich weiß nicht, ob sie schon davon gehört haben, aber in unserer schönen Stadt plant man auch einen „Turm zu Babel“. Ganz hoch soll er werden, höher als alle Gebäude und alle Türme Hamburgs. Ja, aus der Perspektive eines Kindes betrachtet wird er bis in den Himmel reichen: 245 Meter hoch, 64 Geschosse, 38 Aufzüge. Errichtet wird er am östlichen Eingang in die HafenCity, direkt bei den Elbbrücken. Von dort hat man heute einen wunderschönen Blick auf unsere einzigartige Stadtsilhouette. Sie ist noch immer geprägt von den Kirchtürmen der Hauptkirchen, dem Rathaus, dem Fernsehturm und natürlich der Elbphilharmonie. Aber das reicht einigen Städtebauern, Investoren und Politikern nicht: Der sog. Elbtower (Büro David Chipperfield Architects) soll noch höher, noch größer, noch imposanter werden als alle anderen Wahrzeichen Hamburgs.

 

Ich bin ja skeptisch und meine mit einigen anderen in St. Katharinen, dass wir darüber in Hamburg debattieren sollten. Ist es das, was Hamburg braucht? Ist das nicht in seinen Ausmaßen ziemlich aus der Zeit gefallen und respektlos gegenüber unserer Baukultur? Wird hier auf „das menschliche Maß“ geachtet, das uns heute in der Stadtplanung so wichtig ist? Dieser Plan wirkt auf mich maßlos überdimensioniert, und ich kann nicht umhin angesichts des biblischen Textes über den „Turmbau zu Babel“ darauf Bezug zu nehmen.

 

Aber, wie heißt es so schön bei Bertolt Brecht? „Mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht. Und mach noch ‚nen zweiten Plan, gehen tun sie beide nicht…“ Wer weiß, vielleicht klappt es, vielleicht aber wird es den Turmbauern ergehen wie den Menschen zu Babel. Deren Bauwerk blieb am Ende unvollendet. Sie brachten es nicht fertig, und so verfiel jene Stadt mit ihrem Turm und blieb als Ruine zurück. Die Menschen erzählten einander davon, eine Generation der nächsten. Und jeder, der von dem unvollendeten Turm erfuhr, fragte nach den Gründen, den Hintergründen und suchte nach einer Erklärung. So entstand die Deutung, die wir heute gehört haben, liebe Gemeinde, nach der Gott selbst dieses gigantische Bauvorhaben stoppte. Wir lesen, dass es Gott gar nicht gefallen hat, wie die Menschen versuchten, sich „einen Namen zu machen“ mit einem Turm, dessen Spitze bis in den Himmel reichen sollte. Wollte er sie vor Hybris warnen, vor Maßlosigkeit und Selbstüberschätzung? Wollte er ihnen eine Grenze setzen? Wollte er sie eventuell sogar dafür bestrafen, da sie sich seinem Himmel nähern, und verwirrte deswegen ihre Sprache und zerstreute sie über die ganze Welt?

 

Diese Deutung habe ich noch in der Schule gelernt und seitdem schaue ich auf die Wolkenkratzer in New York, Dubai oder Hongkong mit einer Mischung aus Faszination und Skepsis – manche der modernen preisgekrönten Büro- und Wohntürme finde ich architektonisch sehr beeindruckend und auch ästhetisch schön. Ich liebe es, durch Manhattans Straßenschluchten zu schlendern und blicke immer wieder fasziniert nach oben. Welche Kulturleistung! Zugleich aber lösen die mächtigen, glatten oder gläsernen Fassaden ein Gefühl der Furcht und der Skepsis in mir aus: Sollen wir so wohnen, arbeiten und leben? Ist das angemessen oder nicht vielmehr ein Stück vermessen. Haben wir uns vielleicht „ver-messen“? Welches Maß passt zu uns? Diese Frage stellen wir uns auch im Blick auf den Klimawandel und die Ausbeutung der Natur. Denn die Menschheit lebt seit Jahren „über ihre Verhältnisse“. Brauchen wir also nicht eine Umkehr von den Werten des letzten Jahrhunderts, die da lauten immer höher, immer weiter und immer schneller? Brauchen wir vielleicht eine erneute Zerstreuung in dem Sinn, dass jemand unsere Maßlosigkeit zerstreut? Brauchen wir die Kraft des Heiligen Geistes, damit wir unsere Erde neu und anders bewohnen, bebauen und bewahren, damit wir ein „neues Maß“ finden?

 

Liebe Gemeinde, die Geschichte vom Turmbau zu Babel will auch erklären, warum die Menschheit nicht in einer einzigen Stadt zusammenwohnt, sondern sich über die ganze Welt in einer großen Völker- und Sprachenvielfalt verbreitet hat. Da steht übrigens gar nichts von einer Strafe Gottes oder von einer Sünde des Menschen, wie man mir weiß machen wollte. Sondern vielmehr: Die Menschen bauten zu Babel eine Zitadelle und einen Turm, aus Angst davor zerstreut zu werden. Sie wollten in dieser Stadt zusammenbleiben, nicht aufbrechen, weiterwandern und die Welt bevölkern. Gott aber hatte andere Pläne, erzählt die Bibel: Er schuf den Menschen zu seinem Ebenbild, nicht um sich in einer Stadt oder einem Turm einzuigeln, sondern um diese Erde zu bebauen und bewahren.

 

Aber wie stellt er sich das vor, wenn Menschen zerstreut werden über die ganze Erde und unterschiedliche Sprachen sprechen? Wenn sie beginnen, sich mit Grenzzäunen und Mauern voreinander abzuschotten? Wenn sie zu Feinden werden und sich mit Raketen beschießen, ja wahllos töten? Brauchen wir nicht die Kraft des Heiligen Geistes, damit aus der Vielfalt, aus Völkervielfalt keine Feindschaft, sondern etwas Anderes entsteht, etwas Neues, eine neue Erde, eine neue Hoffnung? Ich bin überzeugt, ohne den göttlichen Geist werden wir im Alten stecken bleiben. Es ist es, der Neues schafft. Wir brauchen seine belebende und inspirierende Kraft, um aus der Lähmung und Krise des vergangenen Jahres aufzubrechen, nicht zurück ins alte Normal, sondern voraus in ein neues, friedliches, nachhaltiges, maßvolles Leben. Aus uns selbst heraus wird uns das nicht gelingen.

 

Die Pfingstgeschichte erzählt diese andere Wahrheit über uns und diese Welt. Sie berichtet, wie Verständigung auch in einer vielfältigen, diversen Realität möglich ist. In aller Kürze: Ein plötzliches Brausen kommt vom Himmel und erfüllt das Haus, in dem die Jünger sich eingeigelt haben und furchtsam zusammensitzen. Dann erscheinen Feuerzungen über ihren Köpfen und sie beginnen begeistert zu predigen, in vielen verschiedenen Sprachen. Das spricht sich schnell herum, Menschen laufen zusammen, um das Spektakel mitzuerleben. Einige meinen, die Jünger seien wohl betrunken, aber Petrus stellt klar: So früh am Morgen ist hier niemand betrunken, aber berauscht sind sie – berauscht von der Kraft des göttlichen Geistes. Er löst ihre Zungen, befreit sie aus ihrer Sprachlosigkeit, Enge und Ängstlichkeit und lässt sie zu fröhlichen und mutigen Zeugen werden. Sie sind beseelt von göttlicher Fröhlichkeit, feierlichen Hymnen und Lobgesängen, loben Gott, so wie Händel in seiner Kantate. Die Jünger verlassen ihre Häuser und ihre Stadt, werden zu Aposteln des Glaubens und tragen den christlichen Glauben in alle Welt.

 

Auch dies geschah im Laufe der Geschichte nicht im rechten Maß. Man denke nur an die Kreuzzüge und Glaubenskriege. Was immer wir Menschen tun, schwankt zwischen recht und schlecht, ist ambivalent, nicht fehlerfrei, nicht ohne Schuld. Es tut gut, zu wissen, dass Gott uns deswegen nicht verloren gibt, sondern mit seiner Kraft, seinem heiligen, göttlichen Geist beschenkt. Er richtet uns auf, dass wir nach vorn blicken und nicht an Vergangenem hängen bleiben. Er macht uns frei, damit wir uns nicht in uns selbst verfangen, um uns selber kreisen und uns einen Namen machen. Er schenkt den Mut zum Aufbruch, damit wir Neues wagen in der Kirche, in der Gesellschaft und in der Art und Weise, wie wir miteinander leben wollen. Er stellt uns daher immer wieder neu vor die Frage nach dem rechten Maß und nach dem, was gut ist für den Menschen, was gut ist für diese Erde. Er ist die Kraft, die mit uns Gutes will und uns zum Guten hinbewegt.

 

Gott sei Dank dafür, für alle Phantasie und Kreativität, die von ihm ausgeht, für alle Lebendigkeit, Vielfalt und Schönheit in der Natur und in der Kultur, für alle Fröhlichkeit und Zuversicht, die er bereitet, für dieses einzigartige Leben auf dieser einzigartigen Erde! Wenn ich mir das alles bewusst mache, liebe Gemeinde, dann fühle auch ich mich berauscht und stimme innerlich gern mit ein in den Lobgesang, den unsere Kantorei nun fortsetzt: „O praise the Lord with one consent!“

 

Fröhliche Pfingsten!

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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