„inmitten …“ Konkrete Papierobjekte von Regine Bonke
Liebe Gemeinde,
wussten Sie, dass das Quadrat im Mittelalter wegen seiner vollkommenen Form als ein Sinnbild für das Paradies angesehen wurde? Dass die Baumeister mittelalterlicher Klöster beispielsweise den Kreuzgang sehr bewusst quadratisch anlegten, in dessen Mitte ein Brunnen oder ein Lebensbaum stand, so wie man es sich im urzeitlichen Paradies vorstellte?
Ich dachte bis vor kurzem, das Symbol für Vollkommenheit sei das Runde, in sich geschlossen und ohne Anfang und Ende. Aber durch die Beschäftigung mit Ihrer Kunst, liebe Frau Bonke, habe ich einiges neu entdeckt und finde das enorm spannend. Den Garten Eden, also das verlorene Paradies, stellten sich die biblischen Autoren tatsächlich als einen quadratisch eingehegten, umschlossenen Garten vor. Im zweiten Schöpfungsbericht der Bibel wird Gott ja als Gärtner beschrieben, der für den Menschen einen wunderschönen Garten anlegt. Darin pflanzt er allerlei Pflanzen und Bäume und lässt einen Strom hervorquellen, um den Garten zu bewässern. Dieser Strom teilt sich in vier Flüsse, in jede Himmelsrichtung einen – nach Norden, Osten, Süden und Westen.
Das Quadrat als Sinnbild für Vollkommenheit. Nicht nur quadratisch, praktisch, gut wie eine gewisse Schokolade, die zweifelsohne auch himmlisch schmeckt, sondern quadratisch, sinnlich, schön!
Was lösen nun die Quader, Würfel, Winkel und Stelen dieser Ausstellung in Ihnen aus, liebe Gemeinde? Welche Assoziationen rufen sie hervor? Was sehen Sie, was empfinden Sie, was denken Sie, wenn Sie diese Objekte im Kirchraum betrachten? Ich habe drei Assoziationen, die ich gern mit Ihnen teilen möchte.
Als erstes: Ich finde St. Katharinen noch schöner! Das spannungsvolle Wechselspiel von runden, gotischen Gewölben mit den rechteckigen Kanten der Installationen bringt dem wunderbaren Kirchraum eine zusätzliche Faszination. Ein neues Erleben, ein neues Hinsehen. Das Grau der Quader und Winkel harmoniert mit dem Rot der Ziegel des Bodens und dem Weiß der Wände. Das Ziegelrot taucht wieder auf in den rostfarbenen Stelen aus Corten-Stahl, und die blauen Stelen zitieren das Blau der Fenster und das Blau des Gewandes von Katharina – überhaupt: der Stelenpark vor unserer Namensgeberein im Südschiff scheint zu fragen: Auf welche der Stelen möchtest Du Platz nehmen, Katharina?
Leider, leider, leider darf man die Objekte nicht anfassen. Das ist die größte Verlockung dieser Ausstellung. Man möchte die papierene Haut der Objekte berühren, möchte darüberstreichen, die Würfel in die Hand nehmen und mit ihnen spielen, bauen, neues gestalten – aber nein, wie vom Baum der Erkenntnis im Garten Eden dürfen wir von dieser Kunst nicht kosten, aber über sie staunen. (Wer sie anfässt, fliegt aus dem Paradies…)
Ein zweites fällt mir auf: Die Gradlinigkeit, die Klarheit und Ordnung, die aus den Kompositionen spricht. Man hat den Eindruck: hier hat alles seinen richtigen Platz, die Abstände stimmen, die Größen passen, Kante an Kante, alles im rechten Winkel. Das vermittelt eine Atmosphäre der Ruhe und der Harmonie, der Ausgewogenheit und guten Balance. Etwas, das im wahren Leben fehlt. Im Gegenüber zu diesen „vollkommenen“ Formen wird einem die Brüchigkeit und Unvollkommenheit der eigenen Existenz deutlich. Im Vergleich zu dieser akkuraten Ästhetik fallen wir eher aus dem Rahmen und das meine ich ganz wörtlich, so wie in der Installation hinter dem Landeraltar im Chorumgang: ein Durcheinander, ein kleines Chaos, eine Unordnung, ein Über und Untereinander von Objekten wie im wahren Leben, wie in diesen Zeiten: Ordnungen wackeln, Friedensordnungen gelten nicht mehr, Kriegsherren richten fürchterliche Zerstörungen an, Menschen fliehen vor Hunger und Armut, die Welt wird unübersichtlich und vom Kuddelmuddel in unserer eigenen kleinen Welt im Privaten, im Job, in der Familie muss ich ja gar nicht viel erzählen – da hat jede/jeder von uns genug zu tragen.
Ein dritter Gedanke: Die großen und kleinen Krisen auf Erden haben seit Menschen gedenken die Sehnsucht nach einer besseren, heilen, friedlichen Welt geweckt, nach einem himmlischen, einem neuen Paradies. Davon erzählt die Vision des Johannes im letzten Buch der Bibel, die wir vorhin hörten: die Utopie einer neuen Erde und eines neuen Himmels und eines himmlischen Jerusalem. Dort tauchen die quadratischen Formen wieder auf, denn die himmlische Stadt ist viereckig angelegt und ihre Länge ist so groß wie ihre Breite und diese so groß wie ihre Höhe (Ob 21, 16f.). Dem vollkommenen Äußeren entspricht das Leben innerhalb der Stadt: Menschen aller Nationen leben dort in Frieden miteinander und mit der Natur. Die zwölf Tore sind immer geöffnet und jeder ist willkommen.
Diese Tore schmücken übrigens das größte Kunstwerk unserer Kirche, nämlich das Gloriafenster hier hinter mir, in der obersten Reihe. Die Mauern im zukünftigen himmlischen Jerusalem sind mit bunten Edelsteinen verziert, die Wasser der Brunnen und Flüsse sind klar wie Kristall und überall blühen die schönsten Blumen und Bäume. Am wichtigsten aber: Gott selbst und das Lamm (das Symbol für Christus – Sie sehen es auch oben im Fenster) ist mitten unter ihnen. Das zukünftige Paradies ist ein Ort der Wiedervereinigung mit Gott und Christus. Ihre Menschenliebe und Lebensfreude erfüllen alle, die dort hinkommen und verheißen eine wahrhaft herrliche Zukunft.
Der Traum vom Paradies – wir sollten ihn öfter träumen, und dabei den Frieden Gottes herbeisehnen und erbitten, uns über Gelungenes in unserem Alltag himmlisch freuen, die Liebe und das Leben feiern, Hoffnung tanken und Kraft schöpfen, um in der Unvollkommenheit des irdischen Lebens getrost und zuversichtlich zu bleiben.
Amen.
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