Text: Galater 3, 26–29 „Und zu wem gehörst du?“
Liebe Gemeinde!
Was für eine großartige Vision entwirft Paulus hier in seinem Brief an die Galater: In dieser Utopie spielen die Nationalitäten, Geschlechter, Statussymbole für das Zusammenleben keine bedeutende Rolle mehr. Da ist „nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau, ihr seid allesamt einer in Christus“ – da sind alle gleich wichtig, gleich würdig, gleich wertig. Die ethnischen, sozialen und geschlechtlichen Unterschiede zwischen Menschen und Völkern werden in dieser Vision nicht negiert, aber sie haben keine trennende Wirkung. Da gibt es keine feindliche Konkurrenz zwischen Völkern und Nationen, keine Dominanz von Männern über Frauen, keine Ungerechtigkeiten, die die einen frei und die anderen abhängig machen. Da begegnen sich Schwarze und Weiße auf Augenhöhe, da gibt es kein Gefälle zwischen einem reichen Norden und einem armen globalen Süden, da wird die Welt eine andere sein, eine neue, eine gerechte, freie und friedliche – ähnlich wie im Bild vom himmlischen Jerusalem ganz oben in unserem Gloriafenster.
Eine Vision? Eine Utopie? Ein Sehnsuchtsbild? Lassen wir unserer Phantasie freien Lauf und spinnen den paulinischen Gedanken weiter: Da wären kein Terror und kein Krieg in Israel, Gaza und Libanon, kein Kampf um Vormachtstellungen, Landbesitz und Ressourcen. Die Ukrainer würden in ihren Grenzen sicher leben, muslimische Frauen dürften am Kopf und Körper tragen, was sie wollen, dürften wählen und studieren. Niemand müsste aus Hunger, Verfolgung oder Trockenheit über gefährliche Routen und Meere fliehen. Hier bei uns wären ausländische Mitbürger willkommen und integriert, jüdische Familien könnten sich überall sicher fühlen, queere Menschen und Menschen mit Behinderungen würden allseits geachtet. Pluralität und Vielfalt würden uns nicht ängstigen und bedrohen, nicht trennen oder sogar spalten, sondern im Gegenteil bereichern.
Wie schön wäre das?! Und zugleich: Wie unwahrscheinlich und unrealistisch. Statt in versöhnter und friedlicher Verschiedenheit zusammen zu leben, ist unsere Wirklichkeit geprägt von Konkurrenz und Abgrenzung, sogar innerhalb von „Koalitionen“ wie der Ampel. Wir verteidigen gegen alle Seiten unsere Partikularinteressen, leben in je eigenen Milieus, Blasen oder Babbeln, zeigen mit Auto- oder Kleidungsmarken wer wir sind und was wir haben, erleben Spaltungen an den gesellschaftlichen Rändern, und Spaltungen zwischen Stadt und Land, Jung und Alt, rechts- und links, Ost und West u.s.f. Am bedrohlichsten finde ich, dass im Moment politische Kräfte wachsen, die andere Menschen diskriminieren und unsere freiheitliche Demokratie untergraben bzw. in Frage stellen – nicht einmal mehr in dieser fundamentalen Frage sind wir uns hier einig …
In der Gemeinde in Galatien war man sich damals zu Zeiten des Paulus auch nicht grün. Man stritt sich über die Zugangsbedingungen zu dem neuen Glauben, den der Apostel Paulus in die Gemeinde gebrachte hatte: Gehörte die Beschneidung auch dazu? Welche Speiseregeln sollten nun gelten? Und welche Rechte sollten Frauen bekommen, oder Sklaven, die sich zum christlichen Glauben bekannten? Es gab zahlreiche Konflikte in den ersten Gemeinden angesichts der unterschiedlichen sozialen, religiösen und geschlechtlichen Realitäten. Die ersten Christen waren – und das ist nur allzu verständlich - auf der Suche nach ihrer neuen Identität: Wer sind wir? Was eint uns? Was verbindet und was unterscheidet uns von den anderen Religionen und Weltanschauungen?
Die Antwort von Paulus ist wunderbar einfach und klar: Als Getaufte seid ihr alle Kinder Gottes, ihr gehört zu Christus. Das ist eure neue Identität. Dabei ist es vollkommen egal, ob ihr männlich oder weiblich geboren seid, ob ihr Jude oder Grieche seid, Sklave oder freier Bürger – all das spielt für die Zugehörigkeit zum christlichen Glauben keine Rolle. Einzig der Glaube und mit ihm die Taufe reichen aus, um zur Gemeinschaft der Christen zu gehören. Deshalb kann die Christenheit weltweit wachsen. Das ist auch die Botschaft des Evangeliums: Die kanaanäische Frau fordert Jesus solange heraus bis er alte Grenzen zwischen Juden und Kanaanäern niederreißt und eine „Ausländerin“ wegen ihres Glaubens segnet.
Paulus sagt: Durch die Taufe bzw. durch den Glauben wird deine Identität von Christus her neu bestimmt. Gott nimmt dich an und segnet dich. Du bist ihm wichtig, so wie du bist, als Kind oder schon erwachsen, einzigartig und individuell. Du gehörst zu ihm. Zugleich wirst du mit der Taufe aber auch Teil einer neuen Gemeinschaft, der Kirche, in der ihr alle die gleiche Würde habt. „Ihr seid alle einer in Christus“, schreibt Paulus. In dem neuen Glauben geht es also um beides: Um dich als individuelle Person und um die Gemeinschaft, in der Du lebst und dich entfaltest. Es geht um das Ich und das Wir!
Während der Taufe sagen wir manchmal zu den Täuflingen, dass sie symbolisch neu geboren werden als Kinder Gottes oder auch neu gekleidet werden und Christus anziehen - die Tradition der Taufkleider macht das bis heute wunderbar deutlich. Sie sind nicht blau für Jungs oder rosa für Mädchen, sondern weiß. Sie zeigen, dass äußere Merkmale wie Status, Herkunft und Geschlecht für die Zugehörigkeit zum Glauben keine Bedeutung haben. Und sie werden oft über Generationen hinweg getragen und verbinden den jüngsten Spross der Familie mit den Urgroßeltern.
Und zu wem gehörst du, liebe Gottesdienstbesucherin, lieber Gottesdienstbesucher? Was macht dich aus? Wer oder was prägt dich? Welcher Glaube gibt dir Halt, gibt dir innere Stärke und Orientierung, nimmt dir deine Angst? Gehörst du zu Christus? Teilst du seinen Glauben, seine Werte, seine Hoffnung? Oder bist du dir da nicht mehr so sicher? Ist dir dein Glaube abhandengekommen oder hast du ihn noch nicht richtig kennen gelernt? Verstehst du deinen Glauben als Privatsache - oder als eine Kraft, die dich mit anderen verbindet? Verstehst du dich als Teil einer Gemeinschaft, die, wie die Kirche, gemeinsam für eine andere, eine bessere Welt betet und handelt?
Das sind Fragen, die uns heute beschäftigen in einer Zeit, in der die Spannungen und Konflikte spürbar immer stärker werden. Ich finde, gerade angesichts des Auseinanderdriftens in unserer Gesellschaft brauchen wir eine verbindende Instanz wie die Kirche. Einen Ort, an dem wir zusammen über eine andere Zukunft nachdenken, in der nicht die Unterschiede sondern das Gemeinsame, das Einende gesucht wird. Wir haben ja nur diese eine Erde, wir haben nur dieses eine Leben! Wir haben auf Erden nur diese eine Zukunft!
Ein solcher Ort kann unsere Kirche sein, aber ebenso eine Synagoge, eine Moschee oder ein Tempel. Die Religionen könnten gemeinsam dazu beitragen, in aller Unterschiedlichkeit das Wir und den Gemeinsinn stärken, Versöhnung suchen und Frieden bauen. Denn vor Gott sind wir alle gleich! Amen.
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