Predigt am 27. Oktober 2024 – 22. Sonntag nach Trinitatis

Pastor i.R. Sebastian Borck

„Das Gute, das ich will, tue ich nicht – läuft gegenwärtig alles darauf hinaus?“ (Römer 7, 14–25)


 

Liebe Gemeinde:

 

„Was stimmt nicht mir der Welt?“ So lautete vor geraumer Zeit die Umfrage einer britischen Zeitung; und der Schriftsteller Chesterton antwortete kurz und knapp:
Sehr geehrte Damen und Herren! Das bin ich. Liebe Grüße, G. K. Chesterton

 

In unserer Welt, in der die abschätzigen Kommentare zu allem, was politisch passiert, immer sofort feststehen und jeder nur das Eigene zu profilieren sucht, könnte etwas mehr von solch humorvoller selbstkritischer Wahrnehmung uns heute gut tun. Wenn öffentlich für kritische Nachdenklichkeit kein Raum mehr gelassen wird, fehlt etwas an demokratischer Kultur.

 

Bei Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom geht es auch um kritische Selbstwahrnehmung, doch im Rahmen einer theologischen Auseinandersetzung zur Relation von Juden und Christen, von Thora und Christus. Es ist einer der schwierigsten Abschnitte in den Briefen des Paulus, eine der verrücktesten Stellen im Neuen Testament überhaupt und zugleich selbst heutigentags so nachvollziehbar-abgründig:

 

Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht.
Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.
Wenn ich aber so handle, wie ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich es,
sondern eine Macht, die in mir wohnt und mich gefangen hält.

 

Was für ein Abgrund! Des Menschen Autonomie mag noch so hochgefahren sein – wer kennte nicht diesen Verlust seiner selbst, dieses Im-Verkehrten-verfangen-Sein!

 

Wir mögen das persönlich kennen, wenn wir uns etwas vornehmen, uns dann aber doch verleiten lassen, davon abzukommen: Was ich nicht will, das tue ich. Oder wenn Zorn einen reitet, immer schlimmer noch eins draufzusetzen – die Ahnung, das Gegenüber eigentlich anders in den Blick nehmen zu können, ist schon da, aber die eigene Emotion ist noch nicht bereit dazu …

 

Und wir kennen das auch gesellschaftlich. Vom Klimawandel wissen tun wir alle genug – allein es fehlt an tatsächlichen Veränderungen. Das Gute, das wir wollen, tun wir nicht, sondern das Falsche, was wir nicht wollen, tun wir weiter. Es ist wie ein Sog, der in uns zu wohnen scheint und uns im Zerstörerischen gefangen hält.

 

Maßstab dessen, was Paulus Sünde nennt, ist das Gesetz, für grobe Verfehlungen das Zehngebot. Traditionell spielen die 7 Todsünden eine wichtige Rolle; sie kommen uns schon näher: Hochmut, also das Gefühl, etwas Besseres als die anderen zu sein; Geiz, alles für sich haben wollen; Wollust, die Gier nach grenzenloser Bedürfnisbefriedigung; Zorn, die große Wut schon bei kleinsten Anlässen; Völlerei, den Mund nicht voll genug bekommen; und schließlich Faulheit, eine Trägheit, die einen das Leben verpassen lässt. All diese Dimensionen von Sünde sorgen für verfehltes Leben, verfehlte, gestörte Beziehungen zu anderen, zur Umwelt, zu sich selbst, zu Gott.

 

Was Paulus pointiert beschreibt, ist der Mensch im Zwiespalt:

 

Nach dem inwendigen Menschen habe ich Freude an Gottes Gesetz, an Gottes lebendiger Ordnung – in meinen Gliedern aber sehe ich ein anderes Gesetz walten, es widerstreitet meinem Verstand und hält mich gefangen, macht mich besessen; dieser Macht kann ich nicht entweichen.

 

Paulus Zusammenfassung ist ganz einfach, in 3 Sätzen:

 

Ich elender Mensch.
Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?
Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!

 

Die ersten beiden Sätze sind ohne weiteres nachzuvollziehen und leicht zu verstehen:
Ich elender Mensch! – was sollen wir zum Mensch im Zwiespalt anderes sagen?
Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? – ja, das Gesetz, unter dem unser Handeln steht, lässt unsere Welt und uns mit ihr nicht anders als tödlich enden. Die Frage ist schon richtig: Wer wird uns erlösen? Drunter geht’s nicht.

 

Paulus Antwort in unserm Text ist eine äußerst knappe Zusammenfassung:
Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn.

 

Das zu verstehen und nachzuvollziehen, braucht ein paar Schritte:
Indem wir zu Jesus Christus gehören, ihm nachfolgen, ihn unsern Herrn sein lassen, ist uns die Tür zu einem anderen Leben eröffnet, in jeder Lebenshinsicht: zu anderen, zur Umwelt, zu sich selbst, zu Gott:
dem andern mit Liebe begegnen,
die Welt ums uns herum bewahren,
uns selbst weder überheben noch überfordern,
Gott die Ehre geben.

 

Beim Propheten Micha heißt das so: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert: nichts anderes als Gerechtigkeit tun, Freundlichkeit lieben und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott.

 

Doch Paulus weiß, dass es um mehr geht als Hören und Sich-danach-Richten. Es ist ein Macht-Konflikt, in dem wir nicht untätig sind, wir alle, ob wir uns nun hervortun oder abseits halten, verstrickt sind wir alle, unter die Sünde verkauft, sagt Paulus: Wenn es uns zu tun leitet, was wir nicht wollen, ist es die Macht der Sünde, die in uns wohnt und uns gefangen hält.

 

Der Aufklärer Voltaire hat das so ausgedrückt: In einer irrsinnigen Welt vernünftig sein zu wollen, ist schon wieder ein Irrsinn für sich.

 

Aus solchen Teufelskreisen verkehrten Lebens frei zu kommen, braucht es eine andere Macht: eine Macht des Lebens, eine Macht, die den Tod als Folge der Entwicklung schon einmal überwunden hat. Das ist die geheimnisvolle Macht Gottes in Jesus Christus, dem vom Tode Auferweckten.

 

Weil Gott den, der in Heilung und Vergebung für alle Bezüge, die zum Leben gehören, eingestanden ist, entgegen aller Verurteilung ins Recht gesetzt, darum ist das Gesetz, die Thora, die Weisung zum Leben nicht abgetan, sondern bekräftigt. Vor allem aber ist als Erfüllung des Gesetzes Jesus Christus eine lebendige Kraft von Glaube, Liebe und Hoffnung, Anfang der Veränderung, die Ketten sprengt und erlösende Befreiung beginnen lässt.

 

Martin Luther hat das Verständnis des Menschen in ebenfalls einer der schwierigsten seiner Schriften: Vom unfreien Willen durch ein Bild weiter zugespitzt: Geritten wirst du immer – von der Macht der Sünde, vom Teufel oder aber von der Gnade Gottes, von der Kraft des Lebens, Jesus Christus.


Ein radikales Bild ist das. In unsere auf Selbstvertrauen und Autonomie bauende Zeit scheint es nicht zu passen. Aber vielleicht kann es in unserer immer abgründiger werdenden Zeit zu denken geben:

 

Das Erste ist: Rechnen wir nicht nur mit Vernunft! Rechnen wir eher damit, dass es Anlässe gab, wo Menschen falsch abgebogen sind, in Verschwörungsgeschichten, haltlose Anklagen und maßlose Behauptungen hineingeraten, von Meinungsführern und sozialen Medien ständig befeuert, so dass sie überhaupt nicht mehr anders erreichbar, sondern ganz davon besessen sind. Was tatsächlich ansteht, konkret gelöst und zurechtgebracht werden muss, scheint dann kaum noch Gehör und Stimme zu haben, verdient aber allen Einsatz und gehört mit Schärfe und Genauigkeit zur Geltung gebracht.

 

Zweitens: Mit Beelzebub ist Teufel nicht auszutreiben. Beziehen wir eher uns selbst mit ein! Behaupten wir doch nicht, in Luthers radikalem Bild selber frei davon zu sein, vom Teufel geritten zu werden. Wenn wir auch bestimmten Besessenheiten abhold bleiben mögen, so hängen wir doch anderem an, was uns gefangennehmen kann. Verkehrt – das bin ich, so wie Chesterton gesagt hat, ist eine wunderbare selbstkritische Haltung. Solche Nachdenklichkeit mag als schwach erscheinen, wo es um Macht-Auseinandersetzungen geht. Sie ist aber eine innere Stärke, weil die Selbstkritik sich schon jenem Sinn für Recht und Gerechtigkeit verdankt, der für die Zukunft steht.

 

Und drittens: Jesus Christus, die Gnade Gottes, vermag im Politischen keine Kategorie zu sein. Aber Luthers steiles Bild: Geritten wirst du immer, von der Macht der Sünde, vom Teufel oder aber von der Gnade Gottes, von der Kraft des Lebens – das kann uns ein starker Hinweis darauf sein, wie sehr von Vertrauen getragen sein muss, was zu tatsächlichen Veränderungen führt. Es braucht Bewegungen, Demonstrationen für Demokratie und Vielfalt aus der Mitte der Gesellschaft heraus, wie wir es erlebt haben, zahlreiche Initiativen für Klimawandel-verändernde Maßnahmen – ohne von solch sichtbar wachsendem Vertrauen getragen zu sein, geht es nicht.

 

Unser Wollen reicht nicht zu, es braucht die tragende Kraft.

 

Und der Friede Gottes, der über all unsere Vernunft hinausgeht, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.  Amen.

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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