Predigt am 29. August 2021 – 13. Sonntag nach Trinitatis

Pastor Frank Engelbrecht

Kantate: Johann Sebastian Bach: „Allein zu dir, Herr Jesu Christ“ BWV 33

 

Die Gnade des Vater, die Liebe unseres Herrn und Bruders Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen

 

„Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ „Ich weiß nicht.“ „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ „Soll ich meine Bruders Hüter sein?“ „Was hast du getan?“

 

Der erste Mord, das ist der biblische Sündenfall. Jedenfalls ist die Geschichte von Kain und Abel das erste Mal, dass das Wort „Sünde“ in der Bibel erscheint. Sie tritt als Macht auf, die uns den Horizont verdunkelt, die Seele eng macht und das Herz verhärtet und gut darin ist, die Schwachstellen zu erkennen, an denen sie sich bei uns einhaken kann, um uns ihre Logik einzuimpfen. Bei Kain ist das das verständliche Gefühl der Ungerechtigkeit. „Warum nimmt Gott das Opfer meines Bruders an und verschmäht mich? Mich, den Älteren, das erste große Glück der Mutter nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies.“„Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des HERRN.“ So hat Eva bei Kains Geburt gejubelt. Abels Geburt dagegen bleibt unkommentiert, er kleckert mehr oder weniger nach.

 

Wunschkind geht anders. Gerechtigkeit geht ebenfalls anders. Aber das fällt Kain nicht auf, bis zu diesem Tag, an dem Gott den Spieß umdreht. Gott nimmt Abels Opfer an und lässt Kains Opfer links liegen. Warum tut Gott das? Ausgleichende Gerechtigkeit? Der Jüngere, der im Schatten des Älteren aufwächst, soll endlich auch einmal im Rampenlicht stehen: wenn schon nicht bei der Mutter, so doch wenigstens bei Gott? Möglich wäre das und würde auch zu dem Gott passen, der sich den Schwachen oder Missachteten zuwendet: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden!“

 

Die Geschichte von Kain und Abel sagt dazu allerdings nichts, sondern stellt nur fest: „Der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.“ (Genesis 4,4) Was Gott allerdings bei Kain ansieht, ist dessen Grimm und seinen finsteren Blick. Gott ahnt, dass sich Kain zu Schlimmem hinreißen lassen könnte, dass er der Macht der Sünde aufsitzt, und sich zu Taten hinreißen lässt, die seiner Menschlichkeit bis ins Tiefste zuwiderlaufen. Und tatsächlich, genau das erleben wir: Groß ist die Macht der Sünde, nahezu unwiderstehlich, wie wir wenige Augenblicke darauf erfahren: Kain lädt seinen Bruder zum Spazierengehen ein, aber nicht, um seine Verbitterung mit ihm zu teilen, sondern um ihn kurzerhand zu erschlagen. Groß ist die Macht der Sünde, aber nicht unüberwindlich, auch wenn gerade auch lutherisch orthodoxe Theologie das immer wieder behauptet hat. Das klingt auch in unserer Kantate an, wenn beispielsweise der Tenor seufzt: „Mein Gott, verwirf mich nicht, wiewohl ich dein Gebot noch täglich übertrete, von deinem Angesicht! Das kleinste ist mir schon zu halten viel zu schwer.“

 

Gegen diese Übertreibung des lutherischen Sündenbegriffs hält der Gott der Kain-und-Abel-Geschichte dagegen. Gott verweist auf die Fähigkeit Kains, die Macht der Sünde in Schach zu halten: „Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ Ähnlich auch Jesus im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, wenn er seinen Gesprächspartner am Ende ihrer Diskussion frohgemut in die Welt schickt: „So geh hin und tu desgleichen!“

 

Aber müssen wir nicht zugestehen, dass der Optimismus Gottes bezüglich Kains Fähigkeit, die Sünde zu überwinden, und die Zuversicht Jesu in der Geschichte vom barmherzigen Samariter sich am Ende als Illusionen erweisen? Seht hin: Kaum hat Gott an Kains Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln appelliert, erschlägt Kain seinen Bruder. Und derselbe Jesus, der darauf setzt, dass das mit dem Reich Gottes in Wirklichkeit doch ganz einfach ist: wir müssen nur frohen Mutes hinausgehen in die Welt und uns anrühren lassen von denen, denen wir Nächster werden können, derselbe Jesus endet unter Spott im Tod am Kreuz: „Anderen konnte er helfen, sich selbst kann er nicht helfen!“

 

Behält die lutherische Orthodoxie mit ihrem scharfen Blick für die Macht der Sünde also doch recht, und erzählen unsere beiden biblischen Geschichten nicht genau davon, wie Gott und Christus das selbst bitter erfahren müssen. Ja und nein: Ja, weil der Sünden-Erinnerungsposten der Tradition uns davor warnt, die Macht der Sünde auf die leichte Schulter zu nehmen, um uns dann immer wieder neu zu wundern, warum es in dieser Welt an so vielen Stellen derart verrückt oder unsagbar grausam zugeht, wie wir das bis heute Tag für Tag erleben. Alles könnte so einfach sein. Genau, ist es aber nicht. Die Tradition hat zudem einen Punkt, wenn sie uns darauf verweist, dass wir gut daran tun, den Blick zu heben und uns Hilfe zu suchen, wenn die Sünde uns auf den Pelz rückt: „Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ Oder mit der Arie von Tenor und Bass: „Gott, der du die Liebe heißt, ach, entzünde meinen Geist und gibt, dass ich aus reinem Triebe als mich selbst den Nächsten liebe; stören Feinde meine Ruh, sende du mir Hülfe zu!“

 

Frömmigkeit und Gebet treten hier als Wege zu praktischer Menschlichkeit auf den Plan, die Hinwendung zu Gott als die Abwendung von Selbstverhärtung, Selbstverdüsterung, Unmenschlichkeit. Der Unmenschlichkeit, in die Kain schlittert: Kain reagiert auf Gottes Ansprache damit, dass er sich von Gott abwendet. Jedenfalls ist in der Geschichte kein Blick und keine Antwort Kains an Gott überliefert. Stattdessen wendet er sich unmittelbar Abel, seinem Bruder zu. Aber nicht brüderlich, wie man sich einem Bruder zuwendet, sondern mit dem Plan, ihn zu töten. Wofür? Dafür, dass Gott das Opfer des Bruder angenommen hat, das eigene, Kains Opfer, dagegen nicht. Aber was kann Abel dafür? Warum wirft Kain seinen Zorn auf Abel und nicht auf seinen Gott. Warum erschlägt er den Bruder, anstatt Gott eine Klage entgegenzuschmettern, die sich gewaschen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“ Der Schrei aus Psalm 22 und des Gekreuzigten, der in der Klage an seinem Gott festhält und ihn selbst in höchster Verzweiflung am Schlawittchen packt.

 

„Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür.“ Kain ist seine Frömmigkeit abhandengekommen. Er hat den Glauben daran verloren, dass die Zuwendung zu Gott ihn weiterbringt, zugleich entgleitet ihm das Empfinden für die Heiligkeit des Lebens. Dennoch müsste er nicht zum Mörder werden: „Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ Aber zu diesem Widerstand ist Kain nicht bereit: „Papperlapapp. Ich mache kaputt, was mich kaputt macht!“ So stirbt der Bruder; und die Erde schreit zum Himmel im Schmerz über das Blut, das über sie auf dem Feld kommt, auf dem Kain Abel erschlägt. Die Erde, aus der die Menschen doch kommen, Adam und Eva, das sind Adam und Adamah, der und die, die aus der Erde stammen und belebt durch Gottes Geist nun für die Zeit ihres Lebens auf ihr, der Erde, wandeln, bis sie wieder zu ihr zurückkehren – Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zum Staub. Wohlgemerkt, das ist etwas ganz anderes als rotes Blut auf weißem Sand.

 

Aber jetzt ist es geschehen. Der Bruder ist erschlagen, die Erde schreit, Gott zürnt: „Verflucht seist du auf der Erde!“ Da erwacht in Kain neue Frömmigkeit. In der verzweifelten Sorge um sein Leben gehen ihm die Augen auf: die Beseitigung des Bruders hat die Schmach der Erniedrigung – also dieses: sein Opfer erfährt Würdigung, mein Opfer ist umsonst – die Beseitigung des Bruders also hat die Schmach dieser Erniedrigung nicht etwa aus der Welt geräumt, sondern unendlich gesteigert. Das war die verführerische Hoffnung, die Kraft der Sünde in ihm aufgeflackerte: die verrückte Hoffnung, dass die Würdigung Gottes mit der Beseitigung des Konkurrenten auf ihn gehen könnte. Aber das Gegenteil tritt ein: nicht nur, dass Gott Kains Opfer links liegen lässt. Mit dem Mord steigert sich die Missachtung Gottes zum Fluch. Der Mörder hat sein Leben nicht gewonnen, sondern verwirkt – so unwiederbringlich verwirkt, wie der Tod des Bruders besiegelt ist von der Erde, in der Kain seinen Bruder verscharrt hat, und die vor Schmerz schreit über den Ermordeten, den sie, die Erde, jetzt bergen muss. In seinem Fluch stellt Gott sich der Erde zur Seite und gesteht ihr, der Erde, zu, dass sie dem Mörder, ihrem Schmerzbereiter, nicht mehr dienen muss: „Wenn du den Acker bebaust, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben.“ Das gleicht einem Todesurteil für den Ackerbauer Kain: seiner Lebensgrundlage beraubt, vor Gottes Angesicht vertrieben. Wo soll er von nun an hin mit sich. Zur Mutter, zum Vater? Unmöglich als Mörder ihres Kindes. Der Jubelruf der Mutter bei Kains Geburt ist verwirkt: „Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des HERRN.“ Von wegen, frei nach Psalm 22: Von jetzt an bin ich ein Wurm oder gar ein Monster und kein Mensch, ein Spott der Leute und verachtet vom Volk – Freiwild und vogelfrei, das heißt: frei ohne Halt und Bezug, haltlos verloren, Tod schon im Leben, so dass nur konsequent wäre, wenn eintritt, was Kain fürchtet: „So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet.“

 

Da besinnt sich Gott. Gott erhört das Gebet Kains und seine Bitte um Gnade vor Recht nach und zeichnet ihn mit seinem Zeichen: Du Kain, Kind Erde bleibst Gotteskind. So weit reicht die Macht der Sünde nicht, dass sie diese Zusage Gottes auswischen kann. Deine Menschlichkeit, Kain, behält festen Anker im Himmel, selbst wenn die Erde Dir keine Heimat mehr geben will. Damit setzt Gott einen Stopper in das Rad aus Gewalt und Gegengewalt und hält allen, die nach Rache schreien, die gleiche Warnung entgegen, die er bereits Kain zusprach: „Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ Glaubt mir das geht: Ihr müsst nur Augen, Herzen und Seele öffnen für die Not der Opfer, der barmherzige Samariter hat es Euch vorgemacht, und für die Not der Täter, die selbst in ihrer Monstrosität noch dieses bleiben: Menschen, von Gott gezeichnete Menschen. So geht hin und tut desgleichen.

 

Aber wie soll das gehen? Sich der Opfer annehmen. Geschenkt, das leuchtet ein, auch wenn es schwer werden kann, wenn wir zu viele zu beklagen haben. Aber die Täter, ich meine, nicht irgendwelche Täter, sondern auch die, deren Tat Mord heißt, vom Mord an Einzelnen bis zum Massenmord? Wie soll das gehen? Wie entgehen wir der Falle der Verharmlosung, welche die Not Kains auf eine Stufe stellt mit dem, den er erschlug? „Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“

 

Die Rede von der Frömmigkeit trägt in sich das Angebot, dass wir das, was unmöglich ist bei den Menschen – und dazu gehört, Mord zu verzeihen, ohne die Fassungslosigkeit über Lebensverlust des Gemordeten zu relativieren – dass wir das, was unmöglich ist bei den Menschen, in Gottes Hände legen, um daraus Kraft zu bekommen zum Widerstand gegen die Sünde, gegen den Teufelskreis der Gewalt, auf dass wir den Blick frei bekommen und die Beklemmung der Seele und Verengung der Herzen lösen: „Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben.“

 

Darin liegt die geistlich betrachtet die Schönheit der Musik, die wir heute in der Kantate hören. Sie leitet uns an zum Gebet und baut Brücken zu der Frömmigkeit, die uns Kraft einflößt zum Widerstand gegen die Sünde. Das ist der Segen der Musik. Und wenn wir dann in ihren Texten die erwähnte Übertreibung des Sündenbegriffs entdecken, dann müssen wir uns daran nicht stoßen. Einmal nicht, weil das durchaus angebracht sein, angesichts der unfasslichen Überschwemmung der Welt mit realer Gewalt, dass wir diesen Wellen der Gewalt einmal in der Woche, wir heute an diesem Sonntag, eine sprachliche Übertreibung entgegenzustellen – solange sie sich nicht festsetzt, um uns die Woche über klein zu machen. Dazu kommt: die Sprache ist nur das eine, und sie ist kleiner gegen die Musik, die uns tröstet und aufrichtet. Als Gebet musiziert will die Musik uns helfen, das Kunststück zu vollbringen, das es bedeutet, die Sünde zu beherrschen.

 

Das ist das Kunststück, Trauer und Entsetzen über den Tod Abels zusammenzubringen damit, dass wir Kains Menschlichkeit in Gottes Namen anerkennen, und dass wir uns – im Widerstand gegen die mal schleichende, mal schreiende Kraft der Sünde – dass wir anrühren lassen von der Not auch seiner Seele, der Seele des Mörders, der seinen Bruder erschlug.

 

Quadratur des Kreises? Ja, eigentlich unmöglich, aber doch möglich bei Gott und den Menschen, wenn Himmel und Erde zusammenwirken.

 

Dazu noch einmal das Gebet aus der letzten Arie im Duett von Tenor und Bass: „Gott, der du die Liebe heißt, ach, entzünde meinen Geist, lass zu dir vor allen Dingen meine Liebe kräftig dringen! Gib, dass ich aus reinem Triebe als mich selbst den Nächsten liebe; stören Feinde meine Ruh, sende du mir Hülfe zu!“

 

Amen.

 

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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