Predigt am 07. November 2021 – Blues-Messe „Spirit of the Blues“

Pastor Frank Engelbrecht

„Spirit of the Blues“

 

Die Gnade des Vaters, die Liebe unseres Herrn und Bruders Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen,
„ich erkläre den plastikmüll der meere“- Ich erkläre ihn mir, ich erkläre ihn Euch – „ich erkläre den Plastikmüll der Meere – zur kunst“ – und löse wie von göttlicher Hand alle Widersprüche auf. Schluss mit dem Versuche, zurück zu kommen in die gute alte Zeit. Wir haben den Weltenlauf gedreht, die Tür zugeschlagen, den Schlüssel im Schloss gedreht und ins Meer geworfen. Da sinkt er unwiederbringlich durch Wellen aus Wasser und besagtem Plastikmüll in unerreichbare Tiefen. Hört auf, Eure Zeit damit zu verschwenden, in der trüben Meeressuppe zu fischen; nicht zurück geht der Weg, sondern nur immer weiter nach vorn. Und wenn Mutter Erde uns nicht mehr will, dann wollen wir sie nicht zwingen, sondern vorangehen und sie unsererseits hinter uns lassen. „26 Und wie es geschah in den Tagen Noahs, so wird’s auch sein in den Tagen des Menschensohns: 27 Sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie ließen sich heiraten bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging und die Sintflut kam und brachte sie alle um.“ Gut gebrüllt, Löwe Lukas. Aber Du kannst uns nicht schrecken. Genau so wollen wir es nämlich halten: lasst uns trinken und feiern und heiraten – aber dieses Mal sind wir schlauer. Wir lachen nicht über Noah, den Erbauer der Arche, sondern bauen uns unser eigenes Rettungsboot. Auf dem Mond zum Beispiel oder auf dem Mars – unsere neuen Heimatplaneten; deren Wüsten verwandeln wir und blühende Landschaften als letzte Rache an der Erde, die uns in ihrer Verwüstung abweist. Und bis wir da oben so weit sind, basteln wir hier unten an unserer virtuellen Arche. Die verspricht ewiges Leben in den Bits und Bites unserer Superelektronengehirne, und macht uns endlich unabhängig von der Widerständigkeit unserer Körper, befreit uns vom Ärger des Alterns und von einer Welt, die sich in ihrer Artenvielfalt nicht einfügen will oder nicht einfügen kann in die Logik der Weltbeherrschung des Anthropozäns. Muss sie auch nicht. Wer nicht mithalten kann, bleibt eben zurück. Was ich hier rede, inspiriert vom Poem des Dichters Arne Rautenberg ist keine wilde Phantasie oder zynische Dystrophie, sondern längst Alltag in den großen Forschungslaboren dieser Welt. Während wir mit Blick auf die Klimakonferenz in Glasgow noch um das 1,5 Grad Ziel zittern und ringen, haben andere den Planeten längst aufgegeben. Realisten nennen sie sich und investieren Billionen von Euro oder auch Dollar in die Forschung für den Exodus ins All zu unseren Nachbarn Mond und Mars oder auch in Forschungen zur Lebensverlängerung und sogar zur Abschaffung des Todes.
Widerstand zwecklos oder illusorisch – was im Zweifel auf das Gleiche hinausläuft. Und wenn wir den Plastikmüll der Meere schon nicht mehr bewältigen können, weil der Kipppunkt längst erreicht ist, erklären wir ihn, bevor er uns bewältigt, erklären wir den Plastikmüll kurzerhand zur Kunst.
Ist das zynisch? Nein, ehrlich. Ist das ehrlich? Nein, zynisch. Aber haben wir eine Alternative? – „Könnte ich doch hören, was Gott redet!“ Genau, das ist die Alternative.
Dass wir uns weigern, uns in die Aussicht auf die Alternativlosigkeit des Weltenlaufs zu schicken; dass wir uns stattdessen ein unruhiges Herz bewahren, die Sehnsucht, die uns umtreibt, wie im Blues, der davon lebt, dass er noch in der Klage an der Treue zum Leben festhält: „Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht – würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Letzte Woche hatten wir Reformationssonntag, da haben wir dieses Luther zugeschriebene Wort wieder bemüht. So ein Unsinn, wenn Du wüsstest, dass morgen die Welt untergeht, dann sollst Du Dich eilen. Rette sich wer kann! Auf die Arche – raus aus Sodom und Gomorrha, bevor sie in Rauch und Asche aufgehen. Nein: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht – würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Wer Bäumchen pflanzt – Apfelbäumchen zumal, denn ihr wisst doch: An apple a day keeps the doctor away! – Also: Wer Bäumchen pflanzt, bleibt der Erde treu. „Dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue!“ Denn die Bäumchen können nicht weglaufen, weder auf den Mars, noch auf den Mond, noch in eine Maschine aus künstlicher Intelligenz. Diese Treue zur Erde spiegelt sich in der Gerechtigkeit des Himmels. Denn der Himmel verwandelt sich, wenn wir Bäumchen pflanzen. Er verwandelt sich vom Fluchtort – „There is no easy way out“ – zu dem, wofür er eigentlich gemacht ist: zum Horizont, dessen Zärtlichkeit darin besteht, dass er uns beheimatet, in Freiheit unter dem Himmelszelt. Denn wo auch immer wir hingehen, geht der Horizont mit und weicht zugleich höflich zurück. Anstatt uns einzumauern, berühren sich Himmel und Erde am Horizont mit einer Zärtlichkeit wie bei einem Kuss. Ein Kuss, der ebenfalls nicht abschließt, sondern aufschließt: Wie der erste Kuss auf die Stirn eines Neugeborenen. Wie der Hochzeitskuss, der die wunderbare Hoffnung auf lebenslange Liebe wagt. Wie der Abschiedskuss, der auf das Wiedersehen vertraut. Wie der Kuss zur guten Nacht, der an den neuen Morgen glaubt, jenseits der Nacht. „Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht – würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Wer so spricht, ist entweder von Sinnen, oder mit einem Realismus begabt, der mehr glaubt und weiter sieht, als das, was uns vor Augen ist, so dass wir es anfassen oder sehen können. Die Melodie dieses Realismus erklingt im „Spirit of the Blues“ und seiner Sehnsucht: „Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet!“ Bis ich es aber höre, weigere ich mich, mir und meiner Sehnsucht den Mund verbieten zu lassen. Stattdessen rede ich selbst oder lausche, schreie, weine, singe, lache, klopfe an des Himmels Tür.
„The Spirit of the Blues“ nährt unseren Mut zum Widerstand gegen die Hoffnungslosigkeit, wie bei den Menschen, die ihn erfunden haben, als sie mit Spirituals ansangen gegen die Sklaverei in die sie entführt wurden. The Spirit of the Blues hat auch die Kraft und den Mut zum Widerstand genährt, der sich einst um die Blues-Messen Widerstand formierte, auf die wir uns berufen, wenn wir hier in St. Katharinen die Blues-Messe feiern rund um den 9. November. Dieses Datum schillert, weil es auf überbordende Schrecken und überbordende Freude verweist. Auf die Schrecken der Reichspogromnacht von 1938 und damit auf den das Reich, das 1000 Jahre währen wollte, Gott sei Dank nur 12 Jahre hatte, und doch in diesen 12 Jahren mehr Verwüstung von Welt und Menschen anrichtete als 1000 Jahre zu fassen vermögen. Dieses Gedenken wirft der 9. November zusammen mit dem Jubel aus dem Jahr 1989, als die Mauer fiel, welche die Welt in zwei teilte – gefühlt für immer damals – bei den meisten von uns, jedenfalls bei mir – gefühlt für immer noch bis weit in den Herbst 1989 hinein. Aber dann waren die, die nicht bereit waren, sich mit der Absurdität der für immer geteilten Welt abzufinden. Sie haben stattdessen Lichter entzündet. Jeden Montag in den Kirchen. Hilflose Geste, die aber doch die Welt aus den Angeln hob – und viele von denen, welche diese freche Hoffnung der Kerzenentzünder trugen, viele von denen kamen aus den Blues-Messen – so dass das Echo dieser Musik sich im Nachhinein als Schwester der Trompeten von Jericho erwiesen: „And the walls came toumbeling down!“ Und die Mauern fielen. Wer weiß, ob die Trompeter von Jericho in Wirklichkeit nicht mit Saxophon und Blues-Harp unterwegs waren. Spaß beiseite – oder vielleicht auch gerade nicht: Her mit dem Spaß – her mit der Lust auf die Hoffnung, „dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen“, so dass Realismus gerade nicht bedeutet, dass wir Erde aufgeben und von ihr fliehen ins Virtuelle oder ins All, sondern dass wir unsere Sehnsucht nähren nach der bleibenden Möglichkeit des Lebens in Würde auf diesem Planeten. Her mit der Lust auf die Hoffnung, dass wir einander und der Welt treu bleiben, als Antwort auf die Treue Gottes, aus der wir leben und die wir einfordern in Jubel, in Besinnung und auch in Klage – „Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet“ – in jedem Falle so, dass wir uns und unserer Hoffnung nicht den Mund verbieten lassen, sondern anpacken und loslegen – Apfelbäumchen pflanzen: „Dass uns auch der Herr Gutes tue – und unser Land seine Frucht gebe.“ (Psalm 85)
„Sie sagen – Idealismus sei ein Intelligenzdefekt – ich glaube es nicht!“
Sondern erkläre den „plastikmüll der meere“ zu dem, was er ist: mörderischer Müll, mit dem wir uns nicht abfinden, sondern mit dem wir eiligst aufhören wollen; und ich erkläre – in Gottes Namen – das Talent zur Hoffnung, welche Mauern überspringt und uns begabt mit der Phantasie, dem Wagemut, der Tatkraft, die wir brauchen, um der Erde, dem Himmel und einander die Treue bewahren für ein Leben in Würde für uns, unsere Kinder und alle Generationen – ich erkläre im Namen Gottes diese Hoffnung und diesen Glauben zur wahren Kunst – „Spirit of the Blues“ – „Let’s work together“. Amen.

 

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