Predigt am 21. November 2021 – Ewigkeitssonntag

Pastor Frank Engelbrecht

Die Gnade des Vaters, die Liebe unseres Herrn und Bruders Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.
„Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, … da soll man nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens.“ (Jesaja 65,17.18a.19b). Worte des Trostes aus dem Buch des Jesaja, die uns anrühren und aufrichten wollen mit einer großen Vision und verwegenen Verheißung von einer Zeit des Friedens unter den Menschen – „Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt. 23 Sie sollen nicht umsonst arbeiten und man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR.“ (Jesaja 65,22.23a.25b) – aber nicht allein unter den Menschen, sondern in der ganzen Schöpfung – „Wolf und Lamm sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.“ (Jesaja 65a,25). Worte des Trostes habe ich gesagt. Aber Vorsicht: Dieser Trost streichelt nicht nur, sondern weckt auch unseren Schmerz, stachelt ihn an. Denn die Verheißung des Jesaja versperrt uns den Weg dazu, dass wir uns mit der Welt abfinden, wie sie nun einmal ist, und das nicht nur vereinzelt hier und da, sondern ganz grundsätzlich: Die Verheißung des Jesaja weigert sich, Frieden zu finden mit dem Tod. Kein Frieden mit dem Tod, der uns angreift, indem er einen gewaltsamen Grundton in unser Leben einzeichnet und indem er die von uns nimmt, die wir lieben. Dieser Widerstand des Jesaja, den er uns als Gottes eigene Worte zuträgt, nimmt uns in unserer Fassungslosigkeit an, die uns ergreift, wenn wir daran denken müssen oder erleben, dass der oder die, denen unser Herz gehörte, dass die nicht mehr sind. Unfassbar, dass meine Stimmen Dein Ohr nicht mehr erreicht, dass meine Ansprache keine Antwort findet bei Dir, dass Dein Blick und mein Blick einander nicht länger treffen, dass wir weder Ärger noch Freude teilen können, dass alles, was uns verbunden hat und uns in guten und schweren Zeiten erfüllte, dass das alles mit einem Male abprallt an der Wand des Schweigens mit Namen Tod. Eben noch zum Greifen nah, jetzt unendlich abstrakt. Darin liegt eine Gewalt des Todes, dass er unserem Leben alle Farbe und Praxis nimmt. Der Tod bricht das fortwährende Spiel von Antwort und Frage und Antwort auf Antwort ab und verwandelt alles in eine große Abstraktion, in reine Theorie. Im Tode ist unser Leben freigegeben zur Obduktion, in der es unendlich viel zu entdecken gibt, bis auf eben dieses: das süße oder auch schmerzhafte Geheimnis des Lebens. Aber haben wir uns nicht abzufinden mit der Realität des Todes? Gehört das Sterben nicht zum Leben dazu – wo kämen wir hin auf unserem Planeten, wenn Tod und Leben sich nicht die Waage hielten? Und sind wir nicht, gerade im Glauben, dazu angehalten, uns in der ARS MORIENDE zu üben – der Kunst des Sterbens? Gewiss, aber das eine ist, das eigene Sterben einzuüben – „Herr lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, / auf das wir Weise werden.“ Das ist die Einübung in das Staunen und in die fröhliche Demut angesichts der Einzigartigkeit jedes einzelnen Moments unseres Lebens. Lasst uns des Geschenks und der Geheimnisse gewahr werden, die das Leben umgeben und erfüllen, und lasst uns bedenken, dass wir kraft unserer Geburt mit jedem Herzschlag und jedem Atemzug teilhaben am Wunder des Lebens auf unserem blauen Planeten inmitten der unfasslichen Weiten des Universums. Diese Lektion lehrt uns der Blick in die Augen der Neugeborenen ebenso wie der Blick zum Abschied auf unsere Verstorbenen. Das eine also ist, die eigene Sterblichkeit als Teil meines Lebens zu begreifen. Das andere aber ist der Tod des anderen, den ich liebe, oder der auf andere Weise tiefe Verbundenheit in mein Leben einträgt: unverwechselbare, nicht austauschbares Leben, das ich aus mir selbst nicht zu erschaffen vermag, sondern das ich allein als Geschenk habe – aus Deiner Ansprache, aus Deiner Zuwendung, die mich trifft und neu erschafft: „Siehe ich mache alles neu!“ Das ist nicht allein Zukunftsvision, sondern alltägliche Erfahrung. „Du bist mein Leben“, so sprechen Liebende zueinander. „Mein Himmel auf Erden!“ Genau: Du bist mein Leben, und so ist Dein Sterben auch mein Sterben, mit dem ich von nun an leben muss. Und wenn Du gehst, verschließt sich nicht nur die Erde in der Bestattung, sondern auch ein Stück des Himmels in meiner Seele.
Dass wir das lernen müssen, mit dem Sterben leben, und dass wir das umso mehr lernen müssen, je länger wir leben und je mehr Abschiede wir feiern, das ist zweifelsfrei eine Tatsache und auch eine biologische Notwendigkeit; und doch bleibt ein Rest, der, so klein er auch sein mag, stört. Er verstört, wie ein Staubkorn im Auge, das wir kaum sehen, und das uns doch irritiert und Tränen in die Augen treibt, bis wir es ausgespült haben. Da bleibt ein widerständiger Rest, in dem wir uns mit Leib und Seele und in der tiefe unseres Herzens weigern, die Abwesenheit dessen anzuerkennen, in dem wir uns weigern, uns damit abzufinden und so den Schmerz oder die Geliebten selbst vergessen. Das geht einfach nicht; und der Rat, es doch zu versuchen, ist so richtig wie abstrakt, so klug wie theoretisch und darin lebensfremd. Wie kann ich mich abfinden und dem Vergessen oder Tode preisgeben, was seinem Wesen nach auf Ewigkeit gedacht war? Dazu gehört die Würde und die Liebe derer, die wir verloren haben und vermissen. Mit ihrem Schwinden kann ich mich nicht abfinden, es sei denn ich erklärte ihre Würde und unsere Liebe zur Illusion: träumt weiter, Ihr Liebenden dieser Erde, und verschließt die Augen vor dem Zynismus der Wirklichkeit, die über Eure Liebe lacht und Eurer Würde spottet. Staub bist Du – und Staub sind die, denen Dein Herz gehört, kaum ein Wimpernschlag im Fluß der Zeit. Was also regst Du Dich auf? Genau: Ich rege mich auf. Ich erhebe Protest gegen diese vermeintliche Objektivität, die das Leben auf Abstand lebt, aus Angst, es zu verlieren. Ich protestiere gegen die Macht des Todes, der alle Verbindung unterbricht und Lebensfäden abschneidet. Und ich kann und will nicht anders, als meinen Protest lebendig zu halten, solange ich lebe, weil ich mir die Idee von der Ewigkeit nicht ausgedacht habe. Sie ist zu mir gekommen und tagtägliche Gegenwart: der neue Himmel und die neue Erde sind längst schon da und leuchten auf in der Geburt meiner Kinder, in der Begegnung mit denen, die mir das Leben sind, an dem Tage, an dem ich die Liebe meines Lebens gefunden habe, oder als die Liebe mich gefunden, wenn nicht gar neu erfunden hat. So erhebe ich Protest gegen die Allmacht des Todes; aber nicht in eigenem Namen, sondern im Namen des Gottes, der Himmel und Erde gemacht hat, und der unseren Widerwillen gegen den Rat, uns abzufinden mit der Wirklichkeit des Todes, der diesen Widerwillen mit seinen Verheißungen füttert, nicht aus Trotz, sondern aus Treue zur Welt, zu unseren Lieben und zum Himmel: „Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“ Dieser neue Himmel und diese neue Erde sind also alles andere als ein Phantasieprodukt einer Einäugige Seele, die nur das Licht will, ohne Schatten, nur das Leben, ohne Sterben. Nein, die Sehnsucht nach dem neuen Himmel und der neuen Erde  ist immer schon eingetragen in unsere Leben und die Welt. Solange unser Atem geht, werden wir sie nicht los, es sei denn um den Preis der Herzensverhärtung bis zum Tode. Denn dieses Sehnsucht ist gegründet in dem Odem Gottes, mit dem er uns ins Leben ruft und uns anstiftet zum Glauben an einen Frieden und eine Versöhnung, welche die Grenzen des Denkbaren, sogar des Todes, überschreitet. Dieser Glaube macht uns Mut, dem Leben zu vertrauen, auf Menschlichkeit zu setzen, selbst wenn es naiv erscheinen mag, Kinder in die Welt zu senden, auch wenn die Zukunft ungewiss ist, und in der Liebe aufs Ganze zu gehen, auch wenn wir um ihre mögliches Ende wissen. Darin lassen wir uns nicht zu beirren, auch nicht, wenn wir an den Gräbern unserer Verstorbenen stehen. Stattdessen halten wir Gott selbst im Gebet und auch in Gottesklage an seiner eigenen Verheißung fest: „Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“ Wohlan: So sei es – dein Wille geschehe im Himmel wie auf Erden! Und wir üben uns im Glauben und der Gewissheit, dass der Schmerz des Gedenkens an unsere Verstorbenen, dass dieser Schmerz vor allem dieses ist: ein Schattenwurf von der Fülle der Lichts, das wir im Leben miteinander teilten, von der Fülle des Lichts, das wir im Glauben als Wahrheit unseres Lebens erkennen: Zur Ewigkeit sind wir erschaffen, nicht zum Tode. Mit Worten des Paulus: „Keiner von uns lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: ob wir leben oder sterben, gehören wir zu Gott.“ Im Leben und Sterben gehören zu dem Gott, der unser Herz in Zeit und Ewigkeit höherschlagen lässt. Vom Tage unserer Geburt bis zu unserem letzten Atemzug erfüllt er uns mit unstillbarer Sehnsucht nach seinem Reich. Nach seinem Reich, dass wir hier schon schmecken: in der Liebe, die wir teilen, in der Menschlichkeit, die wir leben, im Staunen über das Wunder der Schöpfung, das nur darauf wartet, sich in ganzer Fülle zu entfalten. Dafür entzünden wir heute unsere Lichter, dafür lesen wir die Namen derer, die wir verloren haben, und weigern uns zu vergessen, auch wenn das weh tut. Dieses Gedenken mit Namen und Licht blickt nicht allein zurück, sondern erfüllt unsere Gegenwart und weitet blicken nach vorn: der Verheißung Gottes entgegen, der uns zuruft: „Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“ (Jesaja 65,17) So haben wir es mit Euch gelebt und geteilt, mit Euch, die wir jetzt vermissen; so soll es wieder sein: heute im Licht des Gedenkens, dann von Angesicht zu Angesicht, wenn wir uns wiedersehen in Gottes Gegenwart. Amen.

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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