Predigt am 12. Dezember 2021 – 3. Advent

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

„Ans Licht bringen“ 1. Kor 4, 1-5

 

 

Liebe Gemeinde,

 

seit einigen Wochen lebe ich mit einem Buch, das mir von einem Freund empfohlen wurde und mir hilft, diese lange Zeit der Pandemie zu deuten. Die in Berlin lebende Schriftstellerin Marica Bodrozic hat es geschrieben, und es trägt den Titel „Pantherzeit. Vom Innenmaß der Dinge“. Darin beschreibt sie feinfühlig und poetisch ihre Gedanken und Empfindungen während des ersten Lockdowns im März/April letzten Jahres. Inspiriert dazu wurde sie durch das Gedicht „Der Panther“ von Rainer Maria Rilke, über ein Tier im Zoo des Jardin des Plantes, dessen Blick „vom Vorübergehen der Stäbe ganz müd geworden ist“. Seine immer gleichen Bewegungen, der geschmeidige Gang, in dem er seine Kreise dreht, der trübe Blick in die Welt da draußen, die für ihn in seinem Käfig unerreichbar geworden ist, sie bringen Marica Bodrozic auf die Idee, das Gedicht jeden Abend um 20 Uhr laut auf ihrem Balkon zu lesen. Ein Ritual, das sie lange beibehält.

 

Auch wir haben im vergangenen Jahr nach solchen Ritualen gesucht, haben eine Kerze ins Fenster gestellt, auf Balkonen zusammen gesungen oder auch geklatscht. Wir durften ohne Grund nicht hinaus, sondern lebten zurückgezogen in unseren vier Wänden und wurden zurückgeworfen auf uns selbst. Wir schauten „staunend nach draußen in die Welt, die noch vor kurzem der Ort unserer Freiheit war“ (35).

 

In diesen Tagen stellt sich diese Erfahrung erneut ein, denn obwohl geimpft oder genesen oder getestet werden wir wieder aufgefordert, unsere Kontakte zu reduzieren, große Versammlungen zu meiden, Abstand zu halten, Masken zu tragen und möglichst von zu Hause zu arbeiten. In Hamburg stehen wir noch ganz gut da. In anderen Bundesländern oder in Österreich sind die Auflagen wieder sehr rigoros.

 

Um es deutlich zu sagen, ich bin keine Gegnerin dieser Vorsichtsmaßnahmen, ich halte sie für notwendig, denn sie schützen unser aller Leben. Was mich aber beschäftigt, sind die Auswirkungen dieser verrückten, aus den Fugen geratenen, äußeren und inneren Zeit. Diese beschreibt Marica Bodrozic sensibel und erhellend in diesem Buch „Pantherzeit“. Sie beobachtet, wie sich der Blick von der äußeren Welt auf die innere wendet. Sie spricht von einer inneren Zeit, einer Innenwelt der Seele, die nun ans Licht kommt. „Zimmerreisenden“ sind wir geworden, sagt sie.
Ich zitiere: „Was kann ich tun, wenn ich gar nichts tun kann? Immer werde ich in Momenten der Ohnmacht wieder zur kleinen Pionierin aus der sozialistischen Kindheit und denke, nun kann sich niemand mit Geld von dieser Gefahr freikaufen. Eine andere Währung kursiert jetzt in der Welt, auch wenn das Kapital an ihr nagt, sie ist nicht mehr aus dem Leben wegzudenken: die Seele ist erwacht. Alles, was uns innerlich ausmacht, kommt zum Tragen. Die Seelenwelt des unabweisbaren Innenkerns, sie erscheint nun in unseren Worten, in allem, was wir in diesen Tagen tun“ (23f.).

 

Alles, was uns innerlich ausmacht, kommt zum Tragen. Erleben Sie das auch so, liebe Gemeinde? Diese Krise stellt so vieles in Frage: Wie halten Sie das auf Dauer aus? Was macht diese Zeit mit Ihnen? Wie wirkt sie auf ihre Seele? Viele Menschen sind erschöpft, müde. Wir bemerken auch, diese Krise macht Menschen dünnhäutiger, nervöser, aber auch feinfühliger, empfindlicher. Manche werden trauriger, andere ängstlicher. Besonders in dieser nun tatsächlich stillen Zeit des Advents erleben wir Einsamkeit und Schmerzen besonders intensiv. Sehnsüchte werden geweckt, nach Licht und Glanz, nach Wärme und Wohlgefühl, nach Zärtlichkeit und Liebe, nach Schutz und Segen.  

 

In dieser Zeit kommt vieles ans Licht, was wir zuvor noch nicht erkannten. Z.B. sehen wir deutlich, dass es keinen Weg mehr zurück geben wird in die alte Normalität (52), die Zukunft wird eine andere sein und auch wir werden andere sein. Werden wir rücksichtsvoller miteinander umgehen, achtsamer für einander sein? Werden wir barmherziger sein mit uns selbst? Werden wir wieder erkennen, dass und wie wir alle aufeinander angewiesen sind? Werden wir begreifen, dass uns Spaltungen und Ausgrenzungen nicht helfen, sondern im Gegenteil die ganze Schöpfung ja bedroht ist? Werden wir in unserem Innern, in unserer Seele, im Glauben das Maß finden, das Innenmaß, das uns hilft, Licht und Dunkel, Hoffen und Bangen, Zuversicht und Angst in ein gutes Gleichgewicht zu bringen?


Schauen wir auf den Apostel Paulus, der in seinem Leben vielfach leidvollen Bedrohungen ausgesetzt war und in seinen Briefen öfters davon berichtet. In Korinth beispielsweise erlebt er heftige Angriffe aus der Gemeinde. Er empfindet diese wie ein menschliches Gericht, das andere über ihn abhalten. Seine Gegner urteilen und richten über ihn. Das trifft ihn schwer, das verletzt ihn, sie stellen ihn und sein Leben in Frage. Obwohl er sich keiner Schuld bewusst ist, fühlt er sich existentiell bedroht. Anstatt sich selbst gerecht zu sprechen, vertraut er auf Gott. Gott ist es, der ihn richtet. Der Gott, der kommen wird und ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist und das Trachten des Menschen offenbar machen wird (V5). Das eigene Trachten und das der anderen – alle Menschen werden von Gott angesehen und angenommen.  

 

Paulus zieht seine innere Kraft, auch seine Widerstandskraft aus dem Glauben an einen gnädigen und gerechten Gott. Und er hält an diesem Glauben auch in der größten Not, im Gefängnis, im tiefen Zweifel und in der Krise fest. Gott wird kommen und ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, was verschüttet oder vergessen wurde, was in uns zu neuem Leben erweckt werden kann: die Seele, die allen Kränkungen und Schmerzen zum Trotz von Gott angesehen und getröstet wird, die aus dem Dunkel und dem Schatten herausgeholt wird in das Licht des Advents.

 

Für den Paulus begann die Zeit des Lichts mit der Bekehrung vom Saulus zum Paulus, mit der sich sein Leben umkehrte und er vom Christenverfolger zum Christusnachfolger wurde. Diese Verwandlung veränderte sein Leben, äußerlich und innerlich. Immer wieder sucht er nach Worten, dieses neue Sein zu beschrieben, so auch hier im 1. Brief an die Korinther:
Er ist zu einem Diener Christi geworden, zu einem treuen Haushalter der Geheimnisse Gottes. Gottes Sein und Wirken bleibt auch ihm ein Geheimnis, aber vielleicht ist es gerade deswegen so wirkungsvoll. Ein Rätsel kann man lüften, und dann ist der Zauber vorbei. Ein Geheimnis entzieht sich unserem Zugriff und bewahrt seine Tiefe und Unergründlichkeit. Wer sich als Haushalter der Geheimnisse Gottes versteht, der bleibt in Gottes Nähe, ohne ihn zu vereinnahmen. Der weiß, dass Gottes Gnade, Güte, Fülle und Kraft immer größer sein werden, als wir es ermessen können. Der fürchtet sich weniger vor einer ungewissen Zukunft, der vertraut darauf, dass Gott kommt, ja im Verborgenen schon längst gegenwärtig ist. Er kommt in unsere zerrissene und zerzauste Zeit.


„Die Zeit ist aus den Fugen geraten“, schreibt Marica Bodrozic, „und nun wird sie lange brauchen, um sich wieder einzufinden, und vielleicht versöhnen sich jetzt kairos und kronos in unser aller Leben, finden zueinander und führen Gespräche über unsere Zukunft in der Zeit, die uns gemeinsam als Lebenszeit zugeteilt ist.“ (79).

 

Wir erwarten Gottes Ankunft in der Welt, in einem dunklen Winkel Namens Bethlehem wird es hell, leuchtet sein Licht. Wir erwarten seine Liebe und Zuwendung zu jeder und jedem einzelnen von uns, ob wir nun hoffen oder bangen, glauben oder zweifeln, zuversichtlich oder skeptisch in die Zukunft schauen. Wir erwarten seine Kraft, die den Frieden sucht und wirkt. Mit ihm wird es gut ausgehen, dessen bin ich gewiss.

 

Amen.

 

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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