Predigt am 20. Januar 2019 - 2. Sonntag nach Epiphanias

Pastor Sebastian Borck

Dich nicht näher denken
und dich nicht weiter denken
dich denken wo du bist
weil du dort wirklich bist

 

Dich nicht älter denken
und dich nicht jünger denken
nicht größer nicht kleiner
nicht hitziger und nicht kälter

 

Dich denken und mich nach dir sehnen
dich sehen wollen
und dich liebhaben
so wie du wirklich bist

 

Liebe Gemeinde, dieses Liebesgedicht von Erich Fried, ein Lieblings-Liebesgedicht, ist eine Fährte. Sie führt zu Respekt und Achtsamkeit: Respekt vor dem anderen: Dich nicht näher denken, dich denken wo du bist, nicht älter nicht jünger, nicht größer nicht kleiner –Wer der andere/die andere ist, schält sich förmlich allmählich heraus.

 

Mich nach dir sehnen, dich sehen wollen, so wie du wirklich bist. Eine intensive Empathie ist da, ja, tiefer noch, eine Neugier, ein Eros für den anderen/die andere, zart und genau: dich sehen wollen, so wie du wirklich bist. –Um diese Achtsamkeit für den anderen geht es mir heute.

 

Ob wir den anderen so nehmen und achten können – es ist, wie es ist, spricht die Liebe – das ist zutiefst eine Frage des Menschenbildes. Erst recht, wenn wir ihm etwas wünschen: Denke ich ihn wirklich so und nehme ihn an, wie er ist, ehe ich ihm etwas wünsche? Oder nehme ich ihn mit meinen Wünschen unter Hand gar nicht ernst? Verwünsche ich ihn gewissermaßen? Denke ihn einfach anders als er ist?

 

Für Kinder können elterliche Wünsche etwas Gutes sein, ein förderliches Vorzeichen ihrer Entwick-lung. Doch Wünsche, die Kinder in bestimmte Leistungen und Bilder trimmen, können auch zu einem Fluch werden. Kein Staunen und Entdecken und fröhlich mit Gott groß werden, mit ganz viel Wärmestrom im Rücken, sondern stets dem Kältestrom ausgesetzt werden, immer nur hinterherlaufen und den Ansprüchen nie gerecht werden können –das zerstört.

 

Segnet und flucht nicht! Eine tiefe Frage des Menschenbildes ist das, ob wir den anderen/die andere achten können, wie sie/wie er ist, ob wir angemessen Abstand wahren können – dich nicht näher denken – auch ein Kind, einen Menschen mit Behinderungen, ob wir ihn annehmen können so wie er wirklich ist – oder ob wir mit unseren Wünschen vom Erdboden abheben oder auch hinter allen Möglichkeiten, die doch da sind, sträflich zurückbleiben.

 

Eine tiefe Weisheit lautet: Ändern kann man nur, was man angenommen hat. (C. G. Jung)

 

Das macht den Unterschied,wenn wir dem anderen etwas wünschen: erstmal genauer hinschauen, wie sie/wie er ist, und dann so wünschen, dass sich etwas entwickeln kann.

 

Ein Segensraum ist das: sein dürfen, wie man ist, und wachsen, sich entwickeln können, weil noch nicht erschienen ist, was wir sein werden … Im Gegensatz zum deutschen Wort Frieden (wo alles ruhig ist) ist genau das mit dem hebräischen Wort Schalom gemeint: ein Lebenszusammenhang, in dem etwas wachsen und gedeihen, aufblühen und fruchtbar werden kann und eine schöpferische Ausstrahlung über sich hinaus entwickelt – keiner lebt für sich allein.

 

Fluch dagegen hat auch eine Macht und prägt auch einen Raum – aber was für einen zerstörerischen! Böse Wünsche erfüllen gnadenlos sich selbst, eine Gewalttat fortzeugend die nächste ge-biert. Wie sehr können Menschen, unter ein Fluchwort gestellt, darunter leiden, weil sie davon nicht mehr freikommen! Kinder, die nicht angenommen sind, Kinder gar, die zu Kindersoldaten abgerichtet worden sind und die von ihren tödlichen Erfahrungenin ihre Träume hinein verfolgt werden.

 

Segnet und flucht nicht! Eine Probe auf unser Menschenbild ist das, und eine Probe auf unser Gottesbild dazu. Denn wenn ich jemandem etwas wünsche, ist das vorweg eine Frage des Respekts – auch eine Frage des Respekts vor Gott, dem Schöpfer – und dann erst eine Frage des Wunsches und der Veränderung.

 

Und wenn ich für jemanden Gott um etwas bitte, dann lässt das noch viel tiefer blicken,
 – ob ich akzeptiere, was ist,
– und wie ich mir das Handeln Gottes vorstelle
– und vor allem, wofür Gott und wofür Menschen verantwortlich sind.

 

Dorothee Sölle ist eine Theologin, eine Frau des Gebets gewesen. Als sie vor 50 Jahren mit dem Politischen Nachtgebet aufgebrochen ist, erst beim Katholikentag, dann in der evangelischen Antoniterkirche in Köln, mit 1000 Menschen – so viele waren dabei – da geschah dies aus Ärger über die verräterische Sprache der Gebete: Ärger über die falsche, die unerwachsene, die unverantwortliche Theologie in den Gebeten. Erstmal müsse der Schutt abgeräumt werden, hat sie gesagt, den die Tradition uns hinterlassen hat, die Zerstörungen …, die mit Hilfe von Gebeten angerichtet worden sind. Als Deutscher, der nach Auschwitz lebt, frage ich mich, was wohl zwischen 1939 und 1945 in Deutschland gebetet worden ist.

 

Und dann schreibt sie: Wir müssen lernen, vor allem im politischen, im öffentlichen Gebet, aufzuhören, die eigene Ohnmacht zu verklären ... . Gott ... will unsere Hände brauchen.... Im Gebet identifizieren wir uns nicht mit einem starken 'superman', sondern wir übernehmen die Verantwortung für unsere Welt. Wie kann aber ein Gebet, das in dieser christlichen, erwachsenen Gottesvorstellung ... wurzelt, aussehen?

 

Ein christliches Gebet sollte ... ein Stück Auferstehung realisieren und nicht in einem Zustand vor Ostern verharren. ... Entprivatisiert und politisch geworden ist das Gebet dann, wenn wir uns ausdrücklich mit den Schmerzen und Hoffnungen der Menschen, mit denen wir leben, identifizieren. ... Wenn das gelingt, dann ist Gott in dem, was uns unbedingt angeht, gegenwärtig ...

 

Diese wenigen Zeilen markieren, was Dorothee Sölle in ihrer ganzen theologischen Suchbewegung immer wieder neu treibt. Ich möchte Theologie schreiben, sagt sie, die so über das Fehlende spricht, dass es vermisst wird und anwesend.

 

Über ein Liebesgedicht schreibt sie: Genauer wünschen lernen – es ist die Überschrift über ihre ganze Theologie. Und in einem Gedicht heißt es:

 

Mit der religion ist es so
ein Haus in das wünsche kommen dürfen
bekleidet oder nackt
nennen wir eine kirche
ein buch mit rufen wie
komm doch reinige mich führe uns
nennen wir ein gebetbuch
ein andenken an die gestorbenen
und ihre lebenden wünsche
nennen wir kommunion
die geschichte von einem
der gründlicher wünschte als wir
nennen wir das evangelium

 

Und schließlich, knapp auf den Punkt gebracht:
an jemanden denken heißt
seine wünsche nennen können
in christus an jemanden denken heißt
eins werden im wünschen

 

Nehmen wir Impulse von Dorothee Sölle auf, liebe Gemeinde:-diesen besonderen beteiligten, mitgehenden Blick

– liebevoll und nüchtern
– mit beiden Beinen auf der Erde
– aber doch über das Bestehende hinaus.

 

Es bedeutet, Menschen und Dinge im Licht ihrer Möglichkeiten sehen, im Licht dessen, was ist, und zugleich im Licht der göttlichen Verheißung, werden zu können, wie von Gott gewollt; angenommen mit allem, was ist, und zugleich zur Erneuerung berufen, zum Leben aus der Kraft der Liebe Gottes.

 

Die auf Hilfe Angewiesenen sind dann nicht zur Hilflosigkeit verurteilt, sondern erhalten Unterstützung. Die Kranken sind nicht zur Krankheit verurteilt, sondern zum Gesundwerden bestimmt, die Besessenen nicht dazu, Kinder des Teufels zu sein, sondern werdende Söhne und Töchter Gottes, und wir alle nicht dazu, uns selbst genug zu sein, sondern in Dienst genommen zu werden.

 

Ja, es gibt ein Wünschen, das voller Respekt ist und keine Gewalt antut, weder Gott noch dem Menschen, das kein Fluch ist, sondern ein Segen. In einem Gedicht von Dorothee Sölle machen sich Gott und Mensch sozusagen gegenseitig erwachsen:

 

Du hast mich geträumt gott
wie ichden aufrechten gang übe
und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin
glücklicher als ich mich traue
freier als bei uns erlaubt
Hör nicht auf mich zu träumen gott

 

"In alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat", so fängt ein bekanntes Märchen an – als ob diese Zeiten mit dem Froschkönig und dem eisernen Heinrich vorbei wären.

 

Nein, auch heute haben wir's heftig mit Wünschen und Verwünschungen zu tun, mit Segen und Fluch, mit HateSpeech und Hope Speech. "Netzteufel" heißt das Projekt, das die Evangelische Aka-demie zu Berlin 2017 gestartet hat. Es geht um Hass-Mails und fake News im Netz und wie dem christlich begegnet werden kann.

 

Die Initiatoren sagen: Hate Speechund fake News sind Schlüsselbegriffe für den gesellschaftlichen Rechtsruck. Mit Hope Speech wollen wir die Frage stellen, wie ein hoffnungsvoller Blick für Menschlichkeit und Menschenwürde in einer digitalisierten Welt aussehen kann.

 

Hunderte von Hass-Mails, die Bischöfe erhalten haben, werden auf die Verbreitung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hin untersucht, wie sie im Netz sogar auch im Namen des christlichen Glaubens erfolgt. Und sie werden beantwortet, um im Netz die Zivilcourage zu stärken.

 

Denn Ignorieren ist keine Lösung. Hass und Verteufelung, Spaltung und Verächtlichmachung, Angst und Pauschalisierung darf das Feld nicht überlassen bleiben, auch nicht der digitale Raum. Dem gilt es eine digitale Kultur der Nächstenliebe entgegenzusetzen. Also gerade nicht: sich jeden hingehaltenen Schuh anziehen und zurückhauen, sondern die Meinung anderer respektieren, bei den Fakten bleiben, keine Generalisierungen vornehmen, sondern konkrete Beispiele bringen. Also Kommentatoren nicht behandeln, wie sie sich geäußert haben, sondern so, wie man selber auch behandelt werden möchte, mit Witz und Humor, bei den Menschen und ihren Nöten bleibend und Respekt vor Andersdenkenden wahrend und einfordernd.

 

Hope Speech – das sind menschenfreundliche Bilder und Erzählungen aus christlicher Perspektive, konkrete Hoffnungs-Beispiele, die Untergangsszenarien und Ängsten entgegengestellt werden. "Hierbinich" heißt eine Initiative, bei der, von Schweden ausgehend, inzwischen über 60.000 Menschen mitmachen.

 

Der Impetus ist: Genauer wünschen lernen, nah dran an den Schmerzen und Hoffnungen konkreter Menschen. Den Ver-wünschungen und dem Fluch den Segen entgegensetzen – das ist aktueller denn je.

 

Genauer wünschen lernen um Gottes und der Menschen willen, im Zusammenleben mit unseren Nächsten, bei der Erziehung und in der Schule, im Politischen und Internationalen wie im Beten und Fürbitte-Halten – das ist wahrlich eine verheißungsvolle Fährte für dieses Jahr!

 

an jemanden denken heißt
seine wünsche nennen können
in christus an jemanden denken heißt
eins werden im wünschen

 

So bewahre der Frieden, der über uns hinausgeht, der Schalom Gottes, unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

 

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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