Predigt am 25. April 2021 – Sonntag Jubilate

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

Gottesdienst im Rahmen der Predigtreihe zu Luthers Rede auf dem Reichstag zu Worms: „Von der Vernunft, die zum Glauben gehört“

 

 

Begrüßung

Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.


Ich begrüße Sie zum Sonntag Jubilate, liebe Gemeinde. Herzlich willkommen hier in St. Katharinen und Ihnen zu Hause, die Sie diesen Gottesdienst im Stream mitfeiern. Es ist ein Gottesdienst im Rahmen einer Predigtreihe an unseren fünf Hauptkirchen zum Jubiläum des Wormser Reichstags. Dort sollte der Reformator Martin Luther vor Kaiser und Reich seine Schriften widerrufen. Hat er aber nicht - und sich dabei nicht nur auf den Glauben und sein Gewissen berufen, sondern auch auf die Vernunft. Es geht daher heute um die Vernunft, die zum Glauben gehört.


Sie spielt auch bei Paulus eine Rolle, der auf dem Marktplatz von Athen eine ebenso berühmte Rede hält. Wir werden sie später hören.


1.Lesung: Paulus Rede in Athen, Apg. 17, 22-28

2.Lesung: Luthers Rede in Worms

 

1517 hatte Martin Luther seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen und seitdem eine Reihe von kirchenkritischen Schriften veröffentlicht. Dank der neuen Technik des Buchdrucks verbreiten sie sich schnell und werden zu Bestsellern. Selbst in Worms sind Luthers Werke begehrt, sodass der päpstliche Gesandte feststellt: „Täglich regnet es lutherische Schriften in deutscher und lateinischer Sprache.“

Auf dem Reichstag zu Worms am 18. April 1522 will er seine Schriften vor dem Kaiser, den Reichsfürsten und der Kurie verteidigen. Doch dazu kommt es zunächst nicht. Man erwartet von ihm nur, dass er alle seine Werke widerruft. Luther erbittet sich Bedenkzeit, die ihm gewährt wird. In der folgenden Nacht arbeitet er seine beeindruckende Rede aus, in der er sinngemäß sagt:


„Ja, diese Bücher habe ich geschrieben. Nun wollt ihr wissen, ob ich sie widerrufe? So einfach ist das nicht. Denn es sind ganz unterschiedliche Bücher: Einige erklären den Glauben sehr grundsätzlich und das meist übereinstimmend mit dem, was die Kirche seit Jahrhunderten lehrt. Selbst meine Widersacher geben zu, dass darin viel Nützliches steht. Würde ich sie pauschal widerrufen, würde ich auch die Wahrheit widerrufen… Daneben gibt es Schriften, die gegen das Papsttum gerichtet sind. Und niemand kann leugnen, dass einige der päpstlichen Gesetze die Gläubigen aufs Jämmerlichste gepeinigt haben“.

Dann äußert er sich zu seinen Schriften gegen kirchliche Gegner, gibt zu, dass er gelegentlich darin etwas heftig ausholt. Und zuletzt wendet er sich den Stellen in seinen Büchern zu, in denen er kirchlichen Lehren offen widerspricht. Dazu bekennt er sich und sagt, nun zitieren wir ihn wörtlich:


„Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.“

Die berühmten Worte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ hat er wohl nicht gesprochen, doch sie fassen heute noch den Geist seiner Rede gut zusammen. Der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, der um das Leben Luthers fürchtete, ließ ihn danach zu seiner Sicherheit auf die Wartburg bei Eisenach entführen, wo Luther sich 10 Monate versteckt hielt und das Neue Testament ins Deutsche übersetzte.



Predigt

„Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. … Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.“

Mit diesen Sätzen, liebe Gemeinde, hat der Wittenberger Augustinermönch Martin Luther seine berühmte Rede beendet, die er vor Kaiser Karl V., den Kurfürsten und Vertretern der Kurie auf dem Reichstag zu Worms gehalten hat. Diese Worte und diese Haltung Luthers beeindrucken noch immer. Sie stehen für Zivilcourage, Gewissensfreiheit und das mutige Einstehen für eigene Glaubensüberzeugungen. „Wenn ich nicht von den Zeugnissen der Schrift oder von Gründen der Vernunft überzeugt werde...“.


Als ich Luthers Argumentation anlässlich des Reichstags vor 500 Jahren am 18. April 1522 noch einmal gelesen habe, staunte ich über diese Worte. Luther beruft sich nicht nur auf die Bibel, auf das Wort Gottes, nicht nur auf seinen Glauben und auf sein Gewissen, sondern auch auf seine Vernunft. Wie modern! Wie überzeugend ist das denn?!, dachte ich. Gehöre ich doch auch zu den Menschen, die gerne betonen, dass sie ihre Vernunft und ihren Verstand nicht an der Türe abgeben, bevor sie in eine Kirche gehen. Ich möchte Gott und Glaube verstehen, ihm zustimmen oder widersprechen, Argumente hören und abwägen, meine Vernunft mit meinem Glauben ins Gespräch bringen, auch hier im Gottesdienst. Denn zwischen beiden liegt nicht nur eine Grenze oder ein tiefer Graben, sondern da gibt es Brücken und Verbindungen. Manchmal widersprechen sich Glaube und Vernunft, manchmal ergänzen sie sich. Sah Luther das auch so?

Ich habe nachgeforscht und musste schnell feststellen, dass diese Wertschätzung der Vernunft bei ihm eher selten vorkommt. Viel öfter nennt Luther die Vernunft dagegen eine „Hure“. Ja, Sie haben richtig gehört. Er schimpft in einigen Schriften geradezu über die „Hure Vernunft“ – und das war damals keineswegs schmeichelhaft. Hurerei galt als schlechterdings inakzeptabel. Er bezeichnet die Vernunft auch als „Teufelsbraut“, sie sei korrupt, verführerisch, anmaßend, sie könne ihre eigene Verderbtheit nicht erkennen. Ihr höchstes Ziel sei es, „Zweifel zu säen und die Grundlagen des Glaubens zu erschüttern“ (Thomas Kaufmann, 442).

Aber, ist sie nicht auch ein Werk des Schöpfers? Hatte Gott den Menschen nicht mit dieser außerordentlichen Gabe ausgestattet und damit selbst für ihre Existenz gesorgt? Ja, würde Luther zustimmen, und darin liegt auch ihre bleibende Bedeutung: Sie ist „die Erfinderin und Herrscherin über alle Wissenschaften“ und macht den wesentlichen Unterschied des Menschen gegenüber allen anderen Geschöpfen aus. Insofern kommt ihr in Bezug auf die Weltgestaltung, auf Politik, Wirtschaft und Wissenschaft eine zentrale Bedeutung zu.

Dem können wir heute ja nur beipflichten. Verdanken wir doch dem wissenschaftlichen Analysieren und Experimentieren, dem ungebremsten, menschlichen Fragen und Forschen die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Covid 19. Als segensreich preisen wir diese Entdeckung, und das ist sie auch! Kann sie doch Menschenleben retten. Also, auch die Vernunft gehört zu den Gaben Gottes, über die wir am Sonntag Jubilate jauchzen.

Aber, sie hat ihre Grenzen. Das begründet Luther ganz anders als später der große Philosoph Immanuel Kant. Er schreibt: Im Blick auf Christus scheitert sie, in Bezug auf die Seele erweist sie sich als nichtig. Die Vernunft kann zwar erkennen, dass alles Gute von Gott kommt, sagt er, aber sie würde dies nie auf sich selbst beziehen. Gegenüber Gott behauptet sie eine Selbständigkeit, eine Autonomie, die sie gar nicht hat. Dass auch sie ein Schöpfungswerk Gottes ist, dass sie auf ihn angewiesen ist, als eine empfangende, kann sie nicht erkennen.


Und wie war das dann auf dem Marktplatz in Athen? Paulus beruft sich in seiner berühmten Areopag-Rede auch auf die Vernunft, die zum Glauben gehört: „Ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt, ihr Männer von Athen“. Er schmeichelt den Griechen, wertschätzt ihren heidnischen Glauben, ihre zahlreichen Heiligtümer und Altäre und den einen, den sie dem „unbekannten Gott“ gewidmet haben. Diesen erkennt die Vernunft. Man kann ihn mit philosophischen Begriffen als das Gute, das Absolute, das Transzendente bezeichnen. Aber mehr auch nicht. Den Schöpfergott, der Himmel und Erde gemacht hat, der jedem von uns das Leben einhaucht, den nehmen die Athener nicht wahr. Er ist auch nicht in Tempeln zu finden, die von Menschen erbaut sind, er ist vielmehr alles in allem, über allem und in allem. Er ist zugleich ganz fern und ganz nah, denn „in ihm leben, weben und sind wir“, meint Paulus (Apg 17, 28).

Was meinen sie, liebe Gemeinde? Wie geht es ihnen mit diesen beiden Phänomenen, dem Glauben und der Vernunft? Geraten sie oft in Widerstreit, oder können sie nebeneinander existieren und sich ergänzen? Ist ihnen Gott auch oft unbekannt, verborgen, unverständlich, unbegreiflich? Bleibt er ihnen dennoch nah, präsent, als ein Gegenüber, das sie suchen, nach dem sie fragen, zu dem sie klagen? Luther bindet die Vernunft an den Glauben, sie bleibt dem Glauben unterworfen. Heute geben wir ihr mehr Raum, mehr Freiheit, mehr Autonomie. Aber würde sie allein unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, stände es schlimm um uns. Unsere Seele bliebe verlassen, unsere Hoffnung leer, unser Vertrauen bliebe endlich und unsere Liebe blass.

Insofern finde ich Luther noch heute überzeugend: Meine Versuche, mich Gott nur mit vernünftigen Gründen zu nähern, scheitern kläglich. Denn zu vieles auf dieser Welt ist unvernünftig. So wie das Kreuz. Den Vernünftigen ist es eine Torheit. Und so wie die Liebe. Die Vernunft ist emotionslos, sie kann die Liebe nicht erfassen. Deswegen hat Luther Recht, wenn er sagt: Im Blick auf Christus, der die Liebe ist, versagt sie.


Dass unser Gott trotz aller Not, die wir erleiden, ein liebender ist, der uns hilft, uns zur Seite steht, wenn wir einsam sind, der uns unsere Schuld vergibt und von Angst befreit, das können wir nur mit den Augen des Glaubens sehen. Und wenn wir es manchmal nicht sehen, weil die Angst uns blind oder die Erschöpfung uns müde macht, dann kann geschehen, was Luther Gnade nennt: Nämlich, dass nicht wir Gott finden müssen, sondern dass er uns findet, uns trägt und bewahrt, uns aufrichtet und befreit, uns ein Vertrauen schenkt, das unverdient und unerklärlich bleibt.


Gott sei Dank und Amen.

 

 

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