Predigt am 29. November 2020 – 1. Advent

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann



Liebe Gemeinde,

2 × 3 macht 4, wiediewiediewitt und drei macht neune. Ich mach mir die Welt, wiediwiediewie sie mir gefällt. Ich hab ein Haus, ein kunterbuntes Haus, ein Äffchen und ein Pferd, die schauen dort zum Fenster raus …

Diese Melodie hörte ich vor 3 Tagen im Radio und sang sofort mit. Erinnern Sie sie, liebe Gemeinde? Fast auf den Tag genau vor 75 Jahren, am 26.11.1945 wurde der erste Band von Pippilotta Viktualia Rollgardina Schokominza Efraimstochter Langstrumpf in Stockholm veröffentlicht und hat seitdem die Herzen von Millionen Kindern und Erwachsenen berührt. Die Geschichte der wahrscheinlich berühmtesten Kinderbuchfigur der Welt wurde in 77 Sprachen übersetzt. Astrid Lindgren hat dieses neunjährige Mädchen mit abstehenden roten Zöpfen, dem Affen Herr Nilsson und dem Apfelschimmel in der Villa Kunterbunt erfunden.

Pippi Langstrumpf und der 1. Advent – wie passt das denn zusammen? Weiter weg können zwei Themen eigentlich nicht liegen, könnte man meinen. In mir passen sie zusammen, sie gehören ganz unmittelbar zu meiner kindlichen Begeisterung für Ungewöhnliches, Unerklärliches, Faszinierendes. Pippi und ihre fantasievollen, schrägen Geschichten habe ich als Kind bewundert und die herrlichen Filme alle geschaut (Johanna). Ich mochte sie/Pippi, sie war so unangepasst, lustig, mutig, stark, selbstbewusst, unabhängig. Ich war ja eher so wie Annika und Tommi, ziemlich brav, gut erzogen und gehorchte meinen Eltern - im Großen und Ganzen jedenfalls. Pippi war so ganz anders und in ihren Augen schien auch die Welt eine andere zu sein: Voller Möglichkeiten, voller Wunder, voller Freundschaft und erfüllbarer Träume. Auf sie übertrug ich meine Sehnsucht nach einer besseren Welt, einer Welt, in der Kinder im Mittelpunkt stehen und von den Großen respektiert werden, in der Menschen in Frieden und Freundschaft zusammenleben, in der all das Leid und die Not aufgehoben werden. Die Bücher von Pippi zu lesen, bedeutete, von einer neuen und besseren Zeit zu träumen.


Und damit bin ich mitten im Advent, liebe Gemeinde, der Ansage, ja dem Anbruch einer neuen Zeit! So verheißt es der Prophet Sacharja im 9. Kapitel:

9 Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. 10 Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.

Welch eine Verheißung, welche eine Zukunft wird da von dem Propheten angesagt und von den Christen im 1. Jahrhundert auf Jesus Christus übertragen: Er ist der König, der die Welt verändern wird, der Frieden auf Erden bringen wird. Und zwar auf eine höchst erstaunliche, überraschende, ja einzigartige Weise: Nicht mit Krone und Schwert, sondern mit Sanftmut, nicht mit Macht und Gewalt, sondern mit Zugewandtheit und Barmherzigkeit, nicht auf hohen Rossen und mit einem Kriegsbogen in der Hand, sondern auf einem Esel und mit offenen, heilenden und segnenden Händen. So zieht Jesus später in Jerusalem ein und das Volk jubelt ihm zu, begeistert, enthusiastisch. Die Verheißung des Propheten Sacharja geht in Erfüllung: Ein anderer König kommt, ein Gerechter und ein Helfer, ein Friedensbringer. Tochter Zion, freue dich, jauchze laut Jerusalem, siehe dein König kommt zu dir, ja er kommt, der Friedefürst! So hörten wir es eben in dem schönen Kirchenlied, gedichtet von Friedrich Heinrich Ranke auf eine Melodie Händels. Dieses Adventslied – es hat fast Volksliedcharakter - bewirkt mit seinem jubelnden Klang eine innere Freude, die Vorfreude auf die Ankunft des Christkindes, die wir von heute an feiern. Freue Dich – es ist Advent!

Freue Dich – gerade jetzt! In diesen belastenden, kontaktarmen, einsamen Wochen ist die Sehnsucht nach einer neuen, anderen Zeit besonders groß. Ich weiß nicht, wie es Ihnen, wie es Euch geht, aber die hohen Zahlen der Erkrankten und der an Covid-19 Verstorbenen, sie deprimieren mich zutiefst. Zurzeit beginnt fast jeder Tag mit entmutigenden Nachrichten, mit Verlängerungen oder Verschärfungen der Kontaktbeschränkungen. Mit neuen Regelungen für Euch in den Schulen, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, für Lehrerinnen und Lehrer: Wie findet welcher Unterricht statt? Wie viele Freunde darf ich wo treffen? Mit oder ohne Maske? Nehme ich die volle U-Bahn oder gehe ich lieber zu Fuß? Wie vermeide ich die Gefahr einer Ansteckung? Je größer die Entbehrungen und Einschränkungen, desto stärker wird die Sehnsucht nach einer neuen Zeit, ja und auch die Sehnsucht nach Begegnungen, die für uns Beziehungswesen so wichtig sind. Mir fehlen die Umarmungen mit meinen Freundinnen, die Geselligkeit, die Einladungen und Geburtstagsfeiern, und ganz besonders die Kultur: Theater, Kino, Konzerte. Sie gehören zu meinem Leben, sind unverzichtbare Elemente unseres gesellschaftlichen Diskurses, des Gemeinwohls, der gemeinsamen Sinnsuche oder Sinngebung. Ohne die Künste veröden wir, ohne Kultur können wir nicht sein.

Dies ist also eine Krisenzeit, wie viele von uns sie noch nicht erlebt haben. Auszuhalten ist das nur, wenn einem der Glaube oder die Hoffnung an eine bessere Zukunft, an eine neue Zeit nicht verloren geht. „Man kann in dieser Welt, wie sie ist, nur (dann) weiterleben, wenn man zutiefst glaubt, dass sie nicht so bleibt, sondern werden kann, wie sie sein soll“, so zugespitzt hat es einmal der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker formuliert. Und genau das liegt jetzt in der Luft. Genau diese Hoffnung erklingt, wenn wir das Lied Tochter Zion hören oder die Choräle aus der Bachkantate. Genau das steht mir vor Augen, wenn ich mir Jesus vorstelle, wie er auf diesem Esel nach Jerusalem einzieht, sehnsüchtig erwartet, erhofft, erbeten. Mit ihm bricht eine neue Zeit an, denn er bringt Gottes Vorstellung von dieser Welt mit, in der Kleine geachtet werden, Frieden verbreitet und Liebe geteilt wird. Mit ihm bricht eine neue Zeit an auch heute, in der Krise, auch hier in dieser Stadt, in dieser Kirche. Es wird nicht so bleiben, wie es ist, denn Christus kommt, ein Gerechter und ein Helfer, damit Frieden werde unter den Völkern von einem Meer zum anderen, vom Strom der Elbe bis an die Enden der Erde …

Suchen wir also Anzeichen dieses angekündigten Friedens, der Freude, Anzeichen, die Hoffnung machen auf eine bessere Zeit! Dabei kann uns noch einmal eine Idee von Pippi Langstrumpf helfen, die nämlich das phantastische Spiel der Sachensucher erfunden hat und beim Herumstöbern in ihrem chaotischen Haus meinte: Die ganze Welt ist voll von Sachen, und es ist wirklich nötig, dass jemand sie findet.

Sie findet Dinge, die zunächst wertlos und überflüssig erscheinen, dann aber doch so viel Freude bringen, dass sich ihre kleine Welt ein Stückchen verwandelt. Im Advent kann man solche Sachen auch finden und erleben: Überraschendes, Faszinierendes in Eurem Adventskalender z.B. Vielleicht entdeckt ihr die adventliche Freude auch in einer flackernden Kerze oder glitzernden Lichterkette. Vielleicht klingt das Weihnachtsoratorium in diesem Jahr leider nur auf CD oder im Radio doch gar nicht so schlecht. Vielleicht ruft ihr jemand an, den ihr lange nicht gesehen habt, schreibt Briefe, Mails oder Kurznachrichten, macht einer anderen eine Freude und nehmt Euch Zeit, zu backen und zu basteln, zu spielen und zu spökern.

Je länger ich nachdenke, desto mehr Sachen fallen mir ein, die Freude bereiten und die ich in diesem Jahr ganz bewusst zelebrieren werde. Hoffnungszeichen, Hoffnungsleuchten, wie der Turm von St. Katharinen, der in diesen Tagen mit den Kirchtürmen von Sasel und vom Osdorfer Born rötlich-golden leuchtet. Michael Batz hat ihn für uns illuminiert. Er, unser Konfirmand Leo, die Kinderbuchautorin Kirsten Boie, ein paar weitere Menschen und ich, haben diese Hamburg-weite Aktion gestern Abend hier eröffnet. An den kommenden Adventssamstagen schließen sich weitere Kirchtürme an, siehe #hoffnungsleuchten!  

Was soll ich noch sagen? Freud Euch, es ist Advent. Amen.

 

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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