Vortrag am 18. November 2020 – 47. Amnesty International-Gottesdienst

Journalist und Moderator Georg Restle

Zum 47. Mal feierte St. Katharinen zusammen mit amnesty international den Buß- und Bettag, mit einem Vortrag von Georg Restle, Leiter und Moderator des Politmagazins Monitor in der ARD. Restle tritt für einen, in seinen Worten, »werteorientierten Journalismus« ein; eine neutrale Haltung hält er weder für möglich noch für wünschenswert. Mit seinem Standpunkt leistet er darum einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte um Qualitätskriterien im Journalismus. Georg Restle erhielt stellvertretend für die Redaktion von Monitor den Grimme-Preis 2020 in der Kategorie »Besondere Journalistische Leistung«. Das Thema seines Vortrags lautet: »Risikogebiete: Menschenrechte in Zeiten der Pandemie.«

 

 

Sehr geehrte Anwesende,

 

zunächst möchte ich Sie herzlich um Verständnis bitten, dass ich diese Worte nicht persönlich an Sie richten kann; aber die derzeitigen Corona-Regeln sowie ein positiver Corona-Fall in unserer Abteilung haben es mir am Ende leider unmöglich gemacht, nach Hamburg zu reisen. So habe ich mit den Veranstaltern vereinbart, meine Gedanken hier und heute vortragen zu lassen. Sie können mir glauben, ich hätte das sehr gerne selbst getan. Ich habe versprochen, mich kurz zu fassen.

 

Menschenrechte in Zeiten von Corona, lautet der Titel meines kleinen Vortrags - und in diesem Fall halte ich es dann doch für nötig, daran zu erinnern, welche Menschenrechte hier eigentlich und vor allem gemeint sind.

 

Artikel 1 Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das Kardinalgrundrecht, das alles umfasst. Das für jeden Menschen in diesem Land gilt, nicht nur für Deut-sche.

 

Das gilt auch für Artikel 2 Grundgesetz: Den Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit. Und die Unverletzlichkeit der persönlichen Freiheit.

 

Und Artikel 3: Der Gleichheitsgrundsatz, das Diskriminierungsverbot.

 

Drei Menschenrechte, die nicht ohne Grund am Anfang unserer Verfassung stehen, weil sie eines deutlich machen: Der Kern unseres Grundrechteverständnisses ist der, dass sie für alle gleichermaßen gelten, unabhängig von der Herkunft, unabhängig vom Einkommen, unabhängig vom sozialen Status.

 

Ein Grundsatz, der uns allen selbstverständlich erscheint - und der doch immer wieder aufgeweicht und aufgehoben wird. Ganz besonders in diesen Zeiten der Pandemie, wo plötzlich Unterschiede gemacht werden, weil sich da ein Begriff in die Debatte eingeschlichen hat, den unser Grundgesetz so nicht vorgesehen hat: Der Begriff der Systemrelevanz. Plötzlich sind einige offenbar gleicher als andere, plötzlich scheint es wichtigere Berufe, wichtigere Menschen und damit verbunden mehr Freiheiten und eine höhere Schutzgarantie für diejenigen zu geben, die jetzt als „systemrelevant“ gelten.

 

Das mag in dieser Krise auf den ersten Blick einleuchten: für Krankenpfleger und –pflegerinnen, für Ärzte und Ärztinnen und alle anderen, die mit der Aufrechterhaltung unseres Gesundheitssystems betraut sind. Oder mit der Lebensmittelversorgung oder schlicht damit, dass Licht und Heizung in unseren Wohnungen funktionieren. Klar: Ohne die geht es nicht. Ohne die würden wir nicht überleben können.

 

Und doch lohnt ein Blick auf all diejenigen, die da plötzlich unter den Tisch fallen, weil sie offensichtlich nicht als systemrelevant gelten:

 

Künstler und Künstlerinnen: Nicht systemrelevant

 

Gastronomen und Gastronominnen und viele andere FreiberuflerInnen: Nicht systemrelevant

 

Studentinnen und Studenten: Nicht systemrelevant

 

Alte und Kranke: Nicht systemrelevant

 

Flüchtlinge: Nicht systemrelevant

 

Erwerbslose: Nicht systemrelevant

 

Obdachlose: Nicht systemrelevant

 

Erstaunlich ist, wer demgegenüber offensichtlich als systemrelevant gilt: seien es die Vereine der Fußballbundesliga, die großen Shoppingcenter, die Automobil- oder die Luftfahrtindustrie, um nur einige wenige Bereiche zu nennen - und ja: auch die Kirchen gehören gewissermaßen dazu, wie Sie heute hier sehen können. Kurz: Alles, was unser Wirtschaftssystem am Leben hält oder besser gesagt: sein Wachstumsversprechen. Plus das, was uns ablenkt oder demütig werden lässt. All das ist jetzt „systemrelevant“. Weil es unser System aufrecht erhält.

 

Ja, es mag sicher Gründe geben, warum die einen so und die anderen anders behandelt werden. Und ja, auch das Grundgesetz lässt Einschränkungen unserer Grundrechte zu. Aber darf die Systemrelevanz eines Betriebs oder einer Beschäftigung über den Wert eines Lebens, das Maß an Würde oder die Teilhabe an den wichtigsten Grundrechten entscheiden? Darüber, ob jemand arbeiten darf oder Geld verdienen kann oder das Haus verlassen darf oder in den Genuss einer Schutzimpfung kommt? Und vor allem: Wer entscheidet am Ende darüber, wenn nicht einmal die Parlamente ausreichend daran beteiligt werden?

 

Bei allem Verständnis dafür, dass Politik in Zeiten der Pandemie differenzieren und abwägen muss – und dass Grundrechte Grenzen haben in den Rechten anderer: Was schleicht sich da ein in unser Denken, in unser Rechtsverständnis, in unser Menschenbild? Dass der Wert eines Menschen von seiner Systemrelevanz abhängt? Von seiner Nützlichkeit für ein System? Und für welches System überhaupt? Für ein System, das auf ewiges Wachstum ausgerichtet ist? Auf die Vermehrung der Armut vieler und des Reichtums weniger? Auf die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen? Auf Brot und Spiele?

 

Ja, darüber muss gesprochen werden, wenn wir als Gesellschaft in dieser Pandemie nicht dauerhaft Schaden erleiden und uns den Weg in eine bessere Zukunft nicht verbauen wollen.

 

Und es lohnt ein Gedankenexperiment: Wie müsste Politik ganz konkret aussehen, wenn sie sich in Zeiten der Pandemie radikal an unseren Menschenrechten orientieren würde? An Artikel, 1, 2 und 3 Grundgesetz.

 

Würden dann KünstlerInnen oder andere Solo-Selbständige mit einem 5.000 Euro-Trostpflaster abgespeist werden? Würden wir Flüchtlinge und Obdachlose in Unterkünfte zwingen, in denen sie permanent einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind? Würden wir Erwerbslosen die Mehrkosten für die Versorgung ihrer Familien aufbürden, weil ihre Kinder mehr Zeit zuhause verbringen müssen? Würden wir weiterhin Universitäten, Theater und Konzertsäle schließen, obwohl das Ansteckungsrisiko dort deutlich besser kontrolliert werden kann als in Flugzeugen oder Shoppingcentern? Würden wir die Alten und Kranken weiter in ihren Wohnungen alleine lassen statt sichere, öffentliche Begegnungsmöglichkeiten im Freien zu schaffen?

 

Und würden wir weiterhin verfügbare Impfstoffe vom Weltmarkt kaufen, so dass den ärmeren Ländern dieser Welt nur das bleibt, was noch übrig ist? Weil Menschenleben uns eben doch nicht gleich viel wert sind?

 

Wir würden nicht!

 

Eine Gesellschaft - ein System -, das sich zuvörderst den elementaren Menschenrechten verpflichtet sieht, kann nur zu einem Schluss kommen:

 

Jeder Mensch ist systemrelevant.

 

Ein provokanter Satz zugegeben, weil er das System, von dem da bisher die Rede ist, in Frage stellt. „Jeder Mensch ist systemrelevant“, muss zwangsläufig ein anderes System meinen; eines, das radikal die Lebens-, Gesundheits-, Bildungs-, Wohlstands- und Entwicklungschancen aller gleichermaßen im Blick hat. Ein System, das eine radikal andere Politik fordert, die weit über die derzeitige Pandemie hinausreicht - sei es in Fragen der gerechten Verteilung unseres Reichtums, der Bildungs- und Gesundheitspolitik und nicht zuletzt in der Bekämpfung des von Menschen verursachten Klimawandels. Eine andere Politik für ein anderes System, in dem jeder Einzelne relevant ist und in dem sich Wachstum eben nicht mehr nach der Mehrung von Reichtum in den Händen weniger bemisst.

 

Das wäre eine Chance, die in dieser Pandemie liegen würde. Vielleicht eine Utopie, aber eine, für die es sich nach wie vor zu kämpfen lohnt.

 

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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