Predigt am 25. Oktober 2020 – 20. Sonntag nach Trinitatis

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

Text: Michi 6,8 und Mk 2, 23-28

 

 

Liebe Gemeinde,

 

was sind das für Zeiten, in denen wir leben? Selten war die ganze Menschheit so verunsichert wie jetzt. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, liebe Gemeinde, aber ich stehe jeden Morgen neu vor der Frage: Was geht, was darf ich heute? Wie entwickelt sich die Pandemie? Welchen Inzidenzwert haben wir aktuell in Hamburg? Kann mein verabredetes Treffen mit Vertreterinnen der Kirchengemeinden und des Kirchenkreises stattfinden? Kann ich an dem Theologischen Gesprächskreis in Katharinen festhalten? Und die Beerdigung kommende Woche? Wie viele Angehörige dürfen dabei sein? Wie sollen wir uns trösten, wenn wir uns nicht die Hand reichen und nicht umarmen dürfen?

 

Und im Privaten stellen sich dieselben Fragen? Wie viele Menschen aus wie vielen Haushalten dürfen sich treffen? Was steht in den aktuellen Verordnungen? Dürfen unsere Kinder aus dem Risikogebiet Berlin zu uns kommen? Gern würden wir gemeinsam meine Mutter besuchen, aber vielleicht fahre ich doch lieber alleine hin. Und halte Abstand. Keine Umarmung, keine zärtliche Berührung. Das fehlt mir so sehr, es fehlt ihr so sehr! Wir leben nun schon so lange mit diesen enormen Einschränkungen, dachten, wir hätten das Virus im Griff. Stattdessen befinden wir uns inmitten einer zweiten Welle von rapide ansteigenden Infektionszahlen. Wie soll es erst im Winter werden? Und wie feiern wir dann in 3 Monaten Weihnachten???

 

Mit der Frage nach dem, was erlaubt oder geboten ist, sind wir mitten drin im Thema der heutigen Bibeltexte. Welche Bedeutung haben die Ordnungen für unser Leben? Wie weit reichen sie? Wie sehr dürfen sie unsere individuelle Freiheit einschränken? Was ist richtig und notwendig für das menschliche Zusammenleben? Was geht zu weit? Die Bibel diskutiert diese Frage an vielen Stellen, und auch Jesus hat sich mit ihr immer wieder auseinandergesetzt, und zwar mit einer überraschenden Unabhängigkeit und Klarheit. Er betonte klar und deutlich: Die Ordnungen, Gesetze und Gebote sind um des Menschen willen da, nicht umgekehrt. Sie sollen dem Menschen dienen, ihm guttun. Und wenn sie ihm nicht mehr dienen, dann darf man sie entschärfen oder auch übertreten – wie in der Erzählung vom Ährenraufen am Sabbat –, oder man muss sie gegebenenfalls auch verschärfen. Von einer Verschärfung spricht er z.B. in den Antithesen der Bergpredigt, wenn er sagt: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage Euch: Liebet eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen (Mt 5, 43f.).

 

Was war sein Maßstab? Was war sein ethisches Kriterium? Woran hat er sich in seinem Handeln orientiert? Versetzen wir uns noch einmal in jene Szene, die der Evangelist Markus beschreibt:

 

Jesus zieht mit seinen Jüngern durchs Land. Sie leben ohne festen Wohnsitz, sind Wanderprediger und darauf angewiesen, dass man ihnen Obdach und auch zu essen und zu trinken gibt. Sie leben wie Nomaden, wir könnten auch sagen ein Pilgerleben. In jedem Fall haben sie auf ihrer Wanderschaft durch Palästina nicht die Möglichkeit, die kultischen und rituellen Regeln des Judentums einzuhalten. Sie können z.B. das Essen für den Sabbat nicht vorbereiten, sondern müssen sich nehmen, was am Sabbat gerade zur Hand ist. An diesem Tag sind es die Ähren auf dem Feld. Sie greifen sich also ein paar Ähren, um etwas zu essen zu bereiten. Am Sabbat, an dem nach jüdischem Gesetz genau solches nicht erlaubt ist. Die Pharisäer, die Jesus beobachten, sind sofort vor Ort und stellen ihn zur Rede: „Sabbat ist Ruhetag, am Sabbat sollen wir alle Arbeit liegen lassen. Deine Jünger halten sich nicht daran“.

 

Möglicherweise steht im Hintergrund dieser Szene eine Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern darüber, wie man das Arbeitsverbot am Sabbat auszulegen hat. Und sehr wahrscheinlich wird Jesus dann betont haben: Wenn Menschen hungern oder Not leiden oder krank sind, dann muss man ihnen helfen, auch am Sabbat. Denn der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.

 

Jesus will die jüdischen Gebote und Gesetze nicht außer Kraft setzen. Er ist als kein Revolutionär oder Anarchist. Menschen brauchen Ordnungen, auf die sie sich verlassen können. Eine moderne Demokratie z.B., das Zusammenleben in einer freien Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn wir uns an die gemeinsam beschlossenen Regeln halten.

 

Aber wir haben auch die Aufgabe, sie immer wieder auf ihre Zweckdienlichkeit hin zu befragen: Sind sie gut für den Menschen? Sind sie gut für unsere Gesellschaft? Und Jesus würde außerdem fragen: Schützen sie die Schwächeren? Achten sie die Würde der Notleidenden, Bedürftigen, Kranken, Kleinen, Schutzlosen? Jesus hatte einen klaren ethischen Kompass und hätte auf die Frage nach dem Kriterium seines Handelns auch mit dem Propheten Micha antworten können: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten, und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“

 

Das finde ich so großartig an diesen alten biblischen Texten, liebe Gemeinde: Sie bringen das Wesentliche auf den Punkt. Wieder sind es drei Dinge, die es braucht: 1. Gottes Wort achten – es ist wie eine Richtschnur, ein Maßstab, ein Kompass, ein Geländer für uns, wenn wir nach dem richtigen Weg suchen. 2. Liebe üben – also deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Jesu Ethik ist eine Liebesethik, und da ist er manchmal geradezu radikal: Liebe Deine Feinde, fordert er. Und 3. Demütig sein vor deinem Gott – d.h. sich bescheiden, sich nicht selbst zum Maß aller Dinge setzen, Fehler eingestehen und um Vergebung bitten. Denn selbst wenn wir uns ehrlich bemühen, Gottes Gebote zu halten und Liebe zu üben, es gelingt uns nur mäßig. Auch wenn wir uns noch so sehr anstrengen, Gutes zu tun, es reicht nicht. Was wir in bester Absicht getan haben, stellt sich bisweilen hinterher als falsch heraus. Im Umgang mit der Pandemie erleben wir das unmittelbar: Was wir heute als unzumutbare Einschränkung erleben, kann uns morgen das Leben retten. Ich schätze die nüchternen Urteile der Wissenschaftler, die manchmal sehr ehrlich, ja fast demütig bekennen: Sie wissen etwas nicht, oder noch nicht. Die Politik muss dennoch entscheiden – ohne genau zu wissen, ob die Maßnahme nun greift oder nicht. Wissen wir also wirklich, was gut für uns ist?

 

Wir haben durch Gottes Gebote und Jesu Ethik einen Maßstab, eine Orientierung: Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein. Was das aber für jede einzelne konkret bedeutet, definiert diese Ethik nicht. Das müssen wir durch kluges Abwägen jeweils selbst herausfinden. Und da wir nicht als Einsiedler allein auf einer Insel leben, sondern Teil einer Familie, Gemeinde oder demokratischen Gesellschaft sind, müssen wir unser Handeln immer auch an anderen messen, erläutern und diskutieren. So kommen wir nicht drum herum, auch morgen früh wieder darüber nachzudenken, was wir in diesen Krisenzeiten tun dürfen, sollen oder müssen.

 

Gut, dass heute Sonntag ist, Ruhetag, jedenfalls für viele von uns. Gut, dass wir heute einmal innehalten, uns besinnen, über unser Tun und Lassen reflektieren, Kraft schöpfen und Trost empfangen. Gut, dass wir gemeinsam Gottesdienst feiern, Gottes Wort hören und bedenken, zusammen beten und im Abendmahl Gottes Nähe und Segen spüren. All das ist gut für den Menschen, es tut uns in der Seele gut, wenn wir hier hören: Was immer auch geschieht, Dein Gott ist mit Dir auf allen Deinen Wegen. Er verlässt dich nicht, er hält dich fest in seiner bergenden Hand.

 

Amen.

 

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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