Predigt am 20. Februar 2022 – Sonntag Sexagesimae

Pastor Frank Engelbrecht

„Schärfer als jedes Schwert" (Hebräer 4, 12-13)

 

Die Gnade des Vaters, die Liebe unseres Herrn und Bruders Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.


„Der Liebe Gott sieht alles!" Das ist ein Wort mit dem etliche von uns vermutlich aufgewachsen sind, ich jedenfalls kenne das aus meiner Kindheit: Gott ist überall, unsichtbar zwar, doch allgegenwärtig, in Deinem Herzen und in der Welt, von den Tiefen der Ozeane bis in die Weiten des Universums.
Dieser Glaube ist zweischneidig mit einer hellen und einer dunklen Seite: er vermag zu trösten und zu beruhigen, weil die Allgegenwart Gottes im Leben und Sterben bedeutet, dass ich nie und nirgendwo verloren bin: „Und wenn ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück - selbst in dunkelsten Verließen nicht, Insolation und Folterhöhlen, wo kein rettender Mensch mich sieht, hört, erreicht -, denn Du bist bei mir, Dein Stecken und Stab trösten mich." Zugleich kann dieser Glaube bedrohlich klingen: „Gib acht: Gott sieht alles - Big brother is watching your Oder mit Worten aus dem heutigen Predigttext: „Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen." Ein Leben unter Beobachtung und dem ständigen Gefühl., erwischt zu werden, erwischt zu sein - das schlechte Gewissen als Lebensmodus. Nehmen wir dann noch die Worte aus dem heutigen Lukas-Evangelium dazu nehmen, mit denen er das Gleichnis vom Sämann auslegt, kommen wir erst recht auf diese beklemmende Spur indem wir uns die bange Frage stellen: „Zu welcher Gruppe gehöre ich?" Zu denen, die demütig, artig und mit Geduld ihr gottgefälliges Leben nach Gottes Wort leben, oder zu den vielen anderen: zu den Hoffnungslosen, die sich die Wahrheit ihres Lebens vom Teufel. stibitzen lassen, oder die nicht mehr hinbekommen als eine Strohfeuer-Frömmigkeit, die unser Leben nicht nachhaltig zu tragen vermag, oder zu denen, welche die Wahrheit ihres Lebens verpassen, weil sie Letztes mit Vorletztem verwechseln und sich in Sorgen, Reichtum oder Freuden des Lebens verlieren, so dass am Ende mit
der Frage dastehen: „Soll das alles gewesen sein?"


Dabei lässt sich das Gleichnis vom Sämann doch mit einer ganz anderen Pointe lesen, die nicht den mahnenden Zeigefinger über unseren möglichen Verfehlungen hebt, sondern von der Großzügigkeit des Sämanns und seiner Sorglosigkeit lebt. „Wer Ohren hat zu hören, der höre." Selbstverständlich gibt es das, dass wir unser Leben verfehlen, weil wir dunklen Mächten in uns und außerhalb von uns verfallen, oder weil es uns an Durchhaltevermögen und Tiefgang mangelt oder wir die falschen Prioritäten setzen und uns in den Alltäglichkeiten unseres Lebens verlieren, anstatt das Wesentliche zu ergreifen. Aber was, wenn das Gleichnis vom Sämann nicht darauf zielte, uns   diese Vielschichtigkeit unseres Versagens wie mit einem Seziermesser auseinanderzusetzen? Was, wenn das Gleichnis vielmehr darauf ausgeht, uns stetig neu Hoffnung und Zuversicht einzuimpfen? Ganz gleich, wie sonnenverbrannt, steinig oder stachelig die Landschaften unseres Lebens auch sein mögen, Gott, der Sämann unseres Lebens wird nicht müde, Saatkörner seiner Lebendigkeit auf die Felder unserer Seele und unseres Herzens zu säen. Dabei verschwendet er nicht seine Zeit mit dem Ärger über den Teil der Saat, der verlorengeht, sondern freut sich stattdessen diebisch an der Saat die aufgeht - hundertfach in Zeit und Ewigkeit. Und wenn wir uns dieser Pointe verweigern oder ihr nicht glauben können, weil wir meinen, die Ehrlichkeit gebiete es, dass wir uns eingestehen, dass unser Leben wertlos und verloren sei, verschwendet und ohne Sinn, dann zückt der Heilige Geist das zweischneidige Schwert, das geschmiedet ist aus Gottes lebendigen und schöpferischen Wort, um die Dornen und das Unkraut unserer Selbstzweifel und aller Verzweiflung wegzuschneiden, wie ein Gärtner, der seinen Garten pflegt.

 

„Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen.”


Die Rechenschaft, von der hier die Rede ist, ist nicht zuerst die Rechenschaft über unsere Wohltaten oder Untaten, sondern Rechenschaft über unseren Glauben: ob wir das tatsächlich glauben können, dass wir alle - und damit jedes Menschenkind - als Gotteskinder in diese Welt gesandt sind - als Gotteskind, das niemals verloren gehen kann. Ganz gleich, was uns geschieht, und sogar ganz gleich, was wir anstellen. Wenn ich so spreche, lauert freilich sogleich jener Verdacht hinter der nächsten Ecke, der so alt ist, wie die biblischen Schriften, der Verdacht, mit dem Jesus sich herumplagen musste, und der Verdacht, den die Kirchenoberen seiner Zeit Martin Luther wie ein Knüppel zwischen die Beine geschmissen haben. Dieser Verdacht lautet: „Wo kommen wir denn da hin? Wo kommen wir hin, wenn es gar nicht um unsere Taten geht, sondern allein um unseren Glauben, sodass wir gerechtfertigt sind vor Gott und den Menschen, ganz gleich, was wir anstellen. Du treibst Spott mit den Opfern von Gewalt und Unrecht und zwingst sie an einen Tisch mit den Tätern, so dass die Ruchlosen in Zeit und Ewigkeit über die von ihnen Gequälten triumphieren." Aber so ist es nicht, weil der Christus, dieser, wie sie ihn nannten, Fresser und Säufer, der Gemeinschaft hat mit allen, mit den Rechtschaffenden ebenso wie mit Betrügern, Erpressern, Mördern und anderen Nachtschattengewächsen dieser Erde, weil dieser Christus in eben dieser Gemeinschaft die Wahrheit unseres Lebens freilegt, wie mit einem Skalpell geschnitten, lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, so dass er unser Herz und unser Seele durchdringt und unser Hören und unser Sehen frei macht für die Wahrheit unseres Lebens und dieser Welt, die darin gründet, dass
Gottes schöpferischer Geist diese Welt durchwirkt und uns darin Heimat bietet als Menschen- und Gotteskinder, noch bevor wir auch nur einen Finger gerührt oder in unserer Geburt das Licht dieser Welt erblickt haben.


Wenn wir das Glauben - also richtig glauben, nicht nur im Sinne von „Für Wahr halten" wie irgendeine Information, sondern glauben mit Kopf und Herz, allen Sinnen und ganzem Verstand, wenn dieser Glaube uns also erfüllt und trägt, dann sehen wir klar und verstehen und erkennen sogleich, worauf es ankommt in unserem Leben, und wie sinnlos das ist, dass wir unsere Zeit verschwenden beispielsweise damit, dass wir Waffen aufhäufen im Kleinen und im Großen, um uns gegenseitig zu bedrohen. Denn warum sollten die Kinder Gottes als Menschenkinder auf dieser Erde einander bedrohen, anstatt einander die Hände zu reichen, im Frieden, zu gegenseitigen Hilfe, zu Spiel und Tanz? In Glauben an die Gotteskindschaft aller Menschenkinder können wir nicht anders, als das zu erkennen und daraufhin zu schwanken zwischen ungläubigem Staunen, Erschrecken, Weinen oder Lachen über die grotesken Bilder, wenn erwachsene Menschen sich in Uniformen zwängen und mit toternsten Mienen Raketen abfeuern, die pro Stück gute 50 bis 100.000 EURO kosten - ein stolzes Jahresgehalt für eine Stelle im gehobenen Dienst - einfach weg: wusch! Weggeschossen: im Manöver ins Nichts, im Ernstfall auf Stellungen, Häuser, Menschen. Die Männer und wahrscheinlich auch wenigen Frauen, die sich an den Grenzen der Ukraine schwerbewaffnet gegenüberstehen, und der weiße Verhandlungstisch im Kreml: wenn es nicht so traurig wäre, mutete das mit den Augen des Glaubens betrachtet an wie Realsatire. „Das könnt ihr nicht ernst meinen!", wollen wir rufen. Als gäbe es nicht einen Haufen echter Aufgaben, die wir anzugehen haben: die Bildung unserer Kinder weltweit, der Kampf gegen Hunger Armut, die Rettung des Planeten vor den Folgen eines überhitzten Klimas. Stattdessen streiten wir uns im Kleiklein um Maskentragen und im Großen über Grenzverläufe - als wären die Grenzen zwischen unseren Ländern gottgegeben. Sind sie nicht, ein Blick aus den weiten des Universums reicht aus, um zu erkennen: der Planet kennt keine Grenzen, und wo wir sie doch haben, sind sie dazu da, uns bei der Organisation unseres Lebens zu helfen, indem wir überschaubare Einheiten schaffen, aber nicht, um darüber in Streit zu geraten und uns so das Leben schwer zu machen. „Alles Quatsch!", erkennen wir im Lichte von Gottes Wort, „das lebendig und kräftig und schärfer ist als jedes zweischneidige Schwert und durchdringt, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein als Richter der Gedanken und Sinne des Herzens."


Leicht gesagt, schwer getan - was ergibst Du Dich in so idealistische reden, Pastor? Könntet Ihr fragen. Die Wirklichkeit sieht eben doch anders aus. Und der Krieg ist Spaß, sondern harte Realität. Richtig, die Wirklichkeit sieht anders aus, die Wahrheit aber nicht. Und wo soll sie hin, die Wahrheit, wenn wir ihr noch nicht einmal hier am Sonntag in der Predigt zu Wort kommen lassen. Und auch das gehört zum Glauben dazu, dass wir nicht müde werden, die Wahrheit mit der Wirklichkeit ins Zusammenspiel zu bringen, weil wir daran glauben, dass das geht: dass sie einander durchwirken, bis die Wirklichkeit die Wahrheit annimmt und Wahrheit zur Wirklichkeit wird mit Frieden auf Erden und in den Herzen.


Aber wenn das wirklich gelingt: wenn wir das also tatsächlich hinbekommen, den großen Umschwung, sodass die Waffen schweigen und das Ringen um den Frieden siegt, und die Vernunft der Menschlichkeit Raum greift auch in den Debatten um die Pandemie und wir die Kurve kriegen mit dem Klima, wenn uns das alles also tatsächlich gelingt - und das zu glauben und zu betreiben legt uns das Wort Gottes uns heute erneut als Aufgabe ans Herz und schärft uns diese Aufgabe ein schärfer als selbst ein zweischneidiges Schwert und zugleich hoffnungsfroh wie der Sämann, der niemals aufhört Hoffnung und Zuversicht zu säen, weil er an die hundertfache Frucht glaubt, selbst wo nur Dornen und Steine sehen - wenn uns das also tatsächlich gelingt, dann bleiben doch noch immer Verwerfungen der Vergangenheit: die vorzeitig ausgelöschten Leben, die von Krankheit und Not gezeichneten Schicksale, die Opfer von Hunger, Krieg, Vertreibung, Übergriffen und vielfältiger Gewalt, dazu auf der anderen Seite die Kräfte, die alles dieses Unglück vorangetrieben oder dabei zugeschaut haben, ohne einzuschreiten.
Was machen wir damit? Wer kann das gutmachen? Die bittere Wahrheit: Niemand kann vergangene Zerstörung gutmachen - niemand und nichts: keine Versöhnung oder Reue haben die Macht, Zeit zurückzudrehen und verlorenes Leben zurückzugeben. Niemand kann das erwirken und wieder gut machen, als - und hier fliehen wir in die Arme Glaubens - niemand kann alles wieder gut und neu machen, als Gott allein, Herr über Zeit und Ewigkeit, der niemanden und nichts übersieht, sondern über jeden Moment unseres Lebens wacht und ihn aufbewahrt, damit wir nicht verloren gehen, selbst, wenn wir selbst und alle Welt uns verloren gibt. Das entbindet uns nicht von der Aufgabe, Versöhnung zu suchen und Reue zu üben und Rechenschaft abzulegen über unser Leben, sondern gibt uns vielmehr den Mut dazu und die Kraft: der Glaube fördert die Wahrheit, nicht die Lebenslüge, aber nicht, um uns zu bespitzeln oder zu vernichten, sondern um uns aufzurichten und uns die Augen zu öffnen - selbst wo uns das unangenehm ist oder wir uns fürchten, der Wahrheit unseres Lebens ins Auge zu blicken und zu erkennen, wo die Wirklichkeit unseres Lebens die Wahrheit unseres Lebens verstellt - unserer Wahrheit als Gotteskinder, zu der wir als Menschenkinder Zeit unseres Lebens berufen sind: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssend' und dem wir Rechenschaft geben können, weil das schöpferische Wort Gottes uns jeden Tag neu erschafft - „Siehe ich mache alles neu!" - und das ohne Rücksicht auf unsere Verbogenheiten, dafür mit Willen, uns aufzurichten zur Fülle unserer Menschlichkeit und zum Frieden: mit Gott, miteinander, mit uns selbst und mit der Welt.

Amen.

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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