Predigt am 11. Oktober 2020 - 18. Sonntag nach Trinitatis

Pastor Matthias Neumann

Vor ein paar Jahren wandelte mich mein Enkel vom biologischen Grossvater in einen Familienopa um. Das ging so vonstatten:  Der Enkel hatte schief geflaggt. Auf die Bitte, seine Autos auf dem Flur zur Seite zu räumen, starrte er mich wütend an und schrie: „Du kommst hier nicht durch. Und du hast mir gar nichts zu sagen: ich bestimme immer ganz allein!“ Der Dreijährige absolvierte gerade seine ersten Schritte zum Thema Autonomie und Heteremonie. Und er lernte dabei gleich den Unterschied zwischen positiver und negativer Freiheit. Freiheit von Zwang und Freiheit für etwas. Darüber hat nicht nur Immanuel Kant nachgedacht, sondern der Enkel lernte, dass es im Zusammenleben von Menschen keinen Anspruch auf absolute Freiheit gibt – ausser auf einer einsamen Insel. Die Anarchisten um Michael Bakunin sehen das freilich etwas anders und lehnen jeglichen Zwang und alle Arten von Fremdbestimmung ab. Und der Enkel in seiner anarchistischen Phase brauchte natürlich Hilfe, damit er nicht zum Ichling auswächst. Also sagte ich zu ihm: „Junger Mann: Wenn du bei uns zu Besuch bist, bestimmen Oma und Opa. Und deshalb bestimme ich jetzt: Du räumst deine Autos sofort zur Seite, damit ich hier durchkomme. Sonst mache ich das.“ Er sah mich mit grossen Augen an – und begann dann doch, mir eine Schneise zu schlagen. Er lernte eine lebenswichtige Lektion, die heisst: es gibt Hierarchien, in denen Befehl und Gehorsam gilt – eine Lektion, die immer wieder im Curriculum des Lebens auftaucht. Die Blaupause dafür sind die zehn Gebote. Infantiler Jähzorn ist nie ein guter Tipp. Für den Dreijährigen war das eine Offenbarung. Und sonst so?


Zur Zeit machen eine ganze Menge Leute von sich reden, die auf das Niveau von Dreijährigen abstürzen und für sich  einen Freiheitsbegriff reklamieren, der auf jegliche  Freiheit von Zwang eingedampft wird und dabei einfach so Leib und Leben anderer Menschen gefährdet. Gebote gelten irgendwie nur für andere.  Nebenbei bemerkt: Bei den alten Griechen wurde ein solches Exemplar Mensch als Idiot bezeichnet: einer, der sich als Privatperson versteht und alle Ansprüche der Gesellschaft an sich strikt von sich weist. Solche Leute wurden damals gnadenlos  bestraft – bis hin zur Aberkennung der Bürgerrechte. Heute sitzen deren Kollegen im Bundestag, flegeln in Talkshows herum und veranstalten Demonstrationen auf dem Niveau eines dreijährigen Enkels. Sie denken quer, schreien „Widerstand“ und „Wir sind das Volk“ und „Diktatur!“ und ziehen vor die russische Botschaft in Berlin und flehen dort: „Putin rette uns!“ Darauf muss man erstmal kommen. Mir fällt dazu ein Zitat von Charles Bukowski ein: „Das Problem dieser Welt ist, dass die intelligenten Menschen so voller Selbstzweifel und die Dummen so voller Selbstvertrauen sind.“ Dass Menschen eben im Plural Menschen sind und deshalb einander Rücksicht und Respekt schulden scheint ein Gedanke zu sein, der bei diesen Zeitgenossen in der Ablage verschwunden ist. Es gilt vielmehr: My life – my rules.  Der hellsichtige Satz aus der biblischen Schöpfungsgeschichte: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“ bekommt einen neuen Klang, wenn diese Alleinlebenden  in der Gesellschaft zu anstandslosen, unerzogenen, schreienden Dreijährigen mutieren. Gott sei Dank sind das noch nicht einmal fünf Prozent, auch wenn das durch  mediale Sensationsgier sträflich verzerrt wird.

Die Schriftstellerin Thea Dorn hat kürzlich in der ZEIT gemahnt: „Eine Gesellschaft, die in erster Linie demjenigen ihre Aufmerksamkeit schenkt, der den krassesten Unsinn in die Welt setzt, die zulässt, dass infantiler Jähzorn sie vor sich hertreibt, in der nichts und niemandem verziehen werden kann, die keinerlei gemeinsame Visionen mehr haben, in der nur noch aus echter oder vermeintlicher Opferperspektive auf echte oder vermeintliche Täter eingedroschen wird, in der sehr viele auf der Therapiecouch liegen wollen, aber keiner mehr die therapeutische Verantwortung übernehmen will – einer solchen Gesellschaft dürfte die demokratische Luft bald ausgehen.“ Ende des Zitats.

Aber wie geht man denn mit diesem infantilen Jähzorn um? Lädt man deren Vertreter in Talkshows ein, weil man deren Bekümmernisse ja ernst nehmen müsse? Oder bietet man ihnen besser keine Bühne? Muss man sie geduldig fragen, wieso Atilla Hildmann ihr Messias geworden ist? Und Nummer 45 im Weissen Haus der heiss ersehnte Heiland, der nach drei Tagen vom Tode wieder aufersteht? Viele Evangelikale in den USA glauben das wirklich.


Das Problem ist ja nicht ganz neu. Moses hat es damals auf dem Marsch durch die Wüste mit Gottes Hilfe lösen müssen. Als Erstes klärt er in den 10 Geboten die Frage: Wer hat mir etwas zu sagen? Wem bin ich zum Gehorsam verpflichtet? In der Wüste  ist es Gott, die Regeln für das Zusammenleben anordnet: „Ich bin aber der Herr, dein Gott, aus Ägyptenland her; und du solltest ja keinen anderen Gott kennen denn mich und keinen Heiland als allein mich.“ So heisst die Präambel der Zehn Gebote. Daran erinnert das berühmte Böckenförde-Diktum „„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Der Gedanke ist mit dem Gottesbezug des Grundgesetzes verschwistert, der so heisst: „ Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Deutsche Volk… kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Doch der Reihe nach, zurück in die Wüste:

Beim langen Marsch von Ägypten ins Gelobte Land bei Temperaturen von 50°C am Tage und Nachts bei leichtem Frost, mit durstigen und hungrigen Menschen mit sehr dünnen Nerven, sind die Zehn Gebote Schutzwall gegen den damals immer wieder explodierenden infantilen Jähzorn, der Mose ins Visier nimmt. Das Gegenmittel in den Geboten geht so:  Die Alten und Schwachen bestimmen das Tempo, Selbstjustiz wird geahndet, der Verbot des Ehebruchs ermöglicht es den Kundschaftern, die Wege ins Gelobte Land herauszufinden, ohne Angst haben zu müssen, dass ihre Frauen zu Freiwild für die Zurückgeblieben werden, Eigentum ist unantastbar, vor Gericht darf nicht gelogen werden, Neid ist eine gemeinschaftszerstörende Sünde und wird geächtet. Punkt. Wer einmal ein paar Tage in Israel war, versteht den Sinn der Gebote dort sofort: Nur mit diesen Freiheitsbeschränkungen ist der Marsch aus der Sklaverei und das Ankommen im Gelobten Land möglich. Ins Heute übersetzt heisst das: Der Traum von der Freiheit ohne Verantwortung gebiert dabei gern einen Albtraum, in dem der Mensch dem Menschen zum Wolf wird. Thomas Hobbes, der diesen bösen Verdacht wieder ins Gespräch gebracht hat, wusste aber auch: Der Mensch kann dem Menschen ein Gott sein, der zu Güte und Barmherzigkeit eingeladen ist – und er kann zur Bestie werden, wenn er seinen eigenen Vorteil um jeden Preis sucht.

Die Balance zwischen Freiheit und Gehorsam ist nicht nur für Christenmenschen ein unverzichtbarer Lernstoff für ein geordnete Zusammenleben. Gelehrt wird diese Balance, wenn es gut geht, von Eltern, Geschwistern, Grosseltern, Paten, Onkeln und Tanten. Später von Lehrern, Ausbildern, Professoren und Politikern. Pastoren auch. Alles mit Sternchen verziert, klar. Diese Lebenswahrheit an unsere Kinder und Enkel weiterzugeben gehört auch in den Aufgabenkatalog, der abgearbeitet gehört, damit Kinder ein Geländer finden, an dem sie sich festhalten können, um vorwärts zu kommen.  Wohin? In ein verantwortliches gemeinsames Leben. Mit Ja‘s und Neins. In Gottesfurcht und Menschenliebe, wenn es gut klappt.  Schluss: Als Jahre später der jungere Bruder des Enkels auf Krawall gebürstet war und mit mir in den Clinch gehen wollte, warnte der Ältere ihn eindringlich so: „Sei vorsichtig: Opa ist meistens cool, aber er kann auch richtig böse werden!“ Klammer auf: So wie der liebe Gott, der ja auch nicht nur lieb ist. Und wir sind ja auch dazu da, dem Herrgott zur Hand zu gehen bei den 10 Geboten. Dann ist ein Lernziel geschafft. Die  Energie dafür schenke Gott uns allen – und den Grosseltern unter uns zuerst.

Amen.

 

 

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