Predigt am 13. März 2022 – Reminiscere

Pastor i.R. Sebastian Borck

„Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?“
(Matthäus 26, 34-46a)

 

Es gibt Worte, liebe Gemeinde, die stechen hervor, die prägen sich ein. Die gehen nicht wieder, sondern bleiben haften. Was drumherum alles zu hören ist, verschwindet. Aber das eine bleibt haften und geht einem nach.


In der Passionsgeschichte gibt es mehrere solcher hervorstechender Worte. In der Geschichte vom Verrat des Petrus ist es: Und alsbald krähte der Hahn. In der Geschichte, die wir heute gehört haben, ist es Jesu Frage: Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?


Es ist ja nicht irgendeine Situation, in der sich Jesus so enttäuscht und Gemeinschaft suchend an seine Jünger wendet. Er ist an der Grenze seines Lebens angelangt. Meine Seele ist betrübt bis an den Tod, sagt er. Er hat vor Augen, was kommt, und fleht Gott an, ob der bittere Kelch nicht noch abzuwenden ist, aber begibt sich dann doch unter Gottes Willen. Dreimal betet er so und dreimal kommt er zurück, seine Jünger schlafend vorfindend, immer wieder.


Was für ein Gegensatz! Wo es besonders drauf ankommt, sind sie abgetaucht. Sie wachen nicht, gehen innerlich nicht mit, sind nicht präsent, sondern überlassen Jesus in seiner Ausweglosigkeit und Verzweiflung seiner Einsamkeit.


Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen? Die ganze Enttäuschung Jesu, so alleingelassen zu werden, sammelt sich in dieser Frage, ja, mehr noch: die ganze existentielle Not, nicht zurückweichen zu sollen und dem Tod ausgeliefert zu sein – all das spricht aus diesem Hilferuf.


Es ist die radikale Umkehrung:
Er, der Menschen geheilt hat, der neue Kräfte in ihnen freigesetzt hat,
er, der das Reich Gottes in Bildern und Gleichnissen lebensnah und einladend verkündigt hat,
er, der um des Lebens willen Grenzen überschritten, an den Rand Gedrängte hereingeholt hat,
er der Jüngerinnen und Jünger berufen und mit einem befreienden Auftrag versehen hat,
er, der in seinem Reden und Tun die Präsenz Gottes selbst behauptet hat,
er – Sohn Gottes – steht nun hilflos da, verloren in der Welt und vor Gott:
Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?


Es ist das Bild des ganz und gar Schwachen, Hilflosen, Verlorenen – Gegenbild und Umkehrung all dessen, was wir von Gott erwarten; Gegenbild und Umkehrung all dessen, was in der Welt als Stärke gilt (aber auch in Zerstörung und Sinnlosigkeit endet); Gegenbild und Umkehrung unserer religiösen Erwartungen.


In auswegloser Situation, im Gefängnis auf seinen Tod zugehend, hat Dietrich Bonhoeffer darüber nachgedacht und geschrieben (Widerstand und Ergebung, Brief vom 16.7.1944):


"Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt! … Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns. Es ist … ganz deutlich, dass Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens! Hier liegt der Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der Deus es machina (der plötzlich von oben herab eingreift). Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen."


Der leidende Gott – das ist die Besonderheit des christlichen Glaubens. Das hat mit der Überzeugung zu tun, dass sogar Gott selbst in Christus menschliche Angst und Verzweiflung geteilt hat. Wie sollte Gott dem Menschen in all seiner Zerbrechlichkeit nah sein, wenn er dessen Hilflosigkeit nicht aus eigener Erfahrung kennt?


Aber es geht noch um mehr: Das Bild vom leidenden Gott, der Gekreuzigte, steht für die Überwindung jeglicher Gewalt und Bosheit dadurch, dass Gott diesen gewaltsamen Tod auf sich genommen hat.


Und schließlich: In den Augen der Welt, in den Augen vieler mag die Vorstellung, dass Gott selbst leidet, töricht erscheinen. Aber die tiefere Wahrheit ist: Durch Orgien der Gewalt und Unterdrückung lässt sich kein Leben gewinnen. Soviel auch Übermacht, Unterdrückung und Ausgrenzung herrschend sind – untergründig und auf Dauer werden sie nicht bestehen, die Überwindung ist schon im Gang. Wie hat Paulus an die Gemeinde in Korinth geschrieben? Die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.


Es ist nicht so einfach, mit seiner Seele und seinem Glaubens- und Vertrauens-Haushalt da hinterherzukommen. Was Glauben und Vertrauen jeweils Richtung gibt, hat Bonhoeffer in einem Gedicht (vom Juli 1944) klar benannt:


Christen und Heiden


Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.


Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod,
Christen stehen bei Gott in seinem Leid.


Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod
und vergibt ihnen beiden.


"Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe …, um Errettung" – so auch Jesus im Garten Gethsemane, wo er zu den Jüngern spricht: Setzt euch hierher, solange ich dorthin gehe und bete, und wo es dann weiter heißt, dass er anfängt zu trauern und zu zagen Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibt hier und wacht mit mir! Ein wenig weiter fällt er auf sein Angesicht und betet: Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; und dann weiter: doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst! Und er kehrt zurück zu den Jüngern, doch findet er sie schlafend: Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen?


Mit Gott wachen – das ist genau die andere Haltung. Also nicht ausweichen, sondern Jesus Christus in Seiner Not sehen, inmitten von Unrecht, Schwachheit und Tod. Das ist die besondere christliche Perspektive: bei Gott stehen in Seinem Leid, bekümmert um Menschen in Not.


Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen? Es ist, wie wenn in den gegenwärtigen Ereignissen der Ruf Jesu an uns ergeht. Wachen und beten wir mit ihm! Gehen wir nicht weg, sondern gehen wir mit. Gehen wir mit Jesus innerlich gegen jeden Zentimeter Zerstörung an, klagen wir das Leben, die Freiheit ein! Gehen wir aufmerksam mit mit Gott, schauen wir, was Leben zerstört und was Leben schafft. Seine Perspektive sei uns Maßstab. Pochen wir darauf, dass so schnell wie möglich ein Weg heraus gefunden wird. Geben wir in unserm Beten nicht auf, ehe das Morden nicht aufgehört hat.


Ich will dem Eindruck entgegentreten, diese Perspektive, bei Gott zu stehen in Seinem Leid, also zu wachen und zu beten, hätte etwas mit Passivität und Hinnehmen zu tun: Man mag sich ohnmächtig fühlen, ja. Aber Beten bleibt alles andere als still. Beten ist Protest, ist Leidenssprache, Sprache des Widerspruchs, ist Protest für das Leben im Angesicht des Unheils. Antworten haben wir nicht, aber leidenschaftliche Fragen. Um Schmerz und Trauer geht es, Klage und Anklage.


Beten ist eine innerliche Form des Kampfes um das Leben im Angesicht höchster Gefahr. Beten ist ein Akt des Widerstands. Wer betet wirft sich mit allem, was ihm wichtig ist, hinein. Christen stehen bei Gott in Seinem Leid.


Liebe Gemeinde, in dem, was geschieht, hören wir den Hilferuf Jesu als Frage Gottes selbst an uns: Könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen? 

Amen.

 


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