Predigt am 23. August 2020 – 11. Sonntag nach Trinitatis

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

Lukas 18, 9-14: Vom Pharisäer und Zöllner

 

 

Liebe Gemeinde,

 

die Beispielgeschichte vom Pharisäer und Zöllner bekommt in diesen Zeiten eine eigenartige Brisanz. Sie lenkt den Blick auf die zahlreichen Polarisierungen, die wir momentan erleben: in unserem Land, wir könnten auch sagen, weltweit gibt es die Menschen, die sich an die Regeln in Folge der Corona-Pandemie halten und diejenigen, die sie übertreten; die Menschen mit - und die Menschen ohne Mund-Nasen-Schutz; die einen, die in Risikogebiete reisen und dadurch sich und andere gefährden; die anderen, die zuhause bleiben und sich und andere schützen. Wie schnell stecken wir Menschen in Schubladen, sortieren in Kategorien wie richtig und falsch, die guten hier, die schlechten da?

 

Das war offensichtlich schon immer so: Von Zöllnern hielt man zu Jesu Zeiten gar nichts, sie galten als käuflich und korrupt. Naja, und die Gruppe der Pharisäer ist auch schnell beschrieben: sie waren die Gutmenschen, die Regel- und Gesetzestreuen, die Gerechten.

 

In angespannten Zeiten wie in diesem Corona-Jahr fallen die Urteile über die jeweils anderen härter aus als sonst. Wenn ich ehrlich bin, schleicht sich auch in mein Urteil über „die anderen“ eine gewisse Schärfe. Ich nenne sie schonmal rücksichtslos, naiv oder dumm. Ich ertappe mich zuweilen dabei, eine kleine Pharisäerin zu sein: die Einhaltung von Regeln und Gesetzen ist gerade in dieser Zeit überlebenswichtig, undwer sie missachtet, der sollte sich nicht nur schämen, sondern gehört sanktioniert. Sie merken, liebe Gemeinde, von einer solchen Haltung sind Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit nicht mehr weit entfernt. Gott sei Dank bin ich nicht wie „die anderen“, z.B. die Ignoranten, die das Virus leugnen, oder die Anhänger von Verschwörungstheorien, die es für eine Erfindung von Bill Gates halten, die sich nur in ihrer virtuellen Blase aufhalten, anstatt sich umfassend über das Virus zu informieren...

 

Diese Krise führt dazu, dass sich Spannungen nicht nur über derartige Polarisierungen entladen, sondern eben auch verschärfen. In den USA geht der Wahlkampf um das Präsidentenamt in die entscheidende Phase. Wir können sicher sein, dass damit Herabwürdigungen, Verleumdungen und Schmähungen in den Mittelpunkt der Berichterstattung treten und die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft weiter vorantreiben werden. Auf der Strecke bleiben dabei die Differenzierungen, die ethischen Prozesse des Abwägens, das kritische Überprüfen der eigenen Meinung und Haltung. Ins Abseits geraten so die Demut, die Achtsamkeit gegenüber anderen und die Erkenntnis der eigenen Bedürftigkeit - auf diese wenigen fünf Worte gebracht: Gott sei mir Sünder gnädig.

 

Genau dazu will Jesus mit diesem Gleichnis anregen. Das verstehen wir aber erst, wenn wir es von den Überfrachtungen befreien, die eine jahrhundertelange Traditionsgeschichte darübergelegt hat. In der Überlieferung bekommt diese Geschichte nämlich einen antijudaistischen Stempel: Der jüdische Pharisäer wurde zum Inbegriff eines selbstgerechten und hochmütigen Menschen, der nicht auf die Gnade Gottes, sondern allein auf seine guten Werke vertraut. Das ist natürlich ein Klischee, eine Stereotype. Martin Luther nutzte sie in der Reformationszeit zur Polemik gegen die Katholische Kirche. Davon müssen wir uns frei machen und stattdessen nach der Motivation fragen, die Jesus bewogen haben könnte, das Gleichnis zu erzählen.

 

Beide gehen zum Tempel, um zu beten. Der Pharisäer tritt ganz nach vorn und behauptet damit seine unmittelbare Nähe zu Gott. Aufrecht steht er da, seiner selbst gewiss, seines Gottes gewiss. Der Zöllner dagegen bleibt im hinteren Bereich des Tempels stehen, demütig, wahrt respektvoll Abstand zum Heiligen, wagt nicht die Augen aufzurichten, sondern schlägt sich beschämt auf die Brust. Die Gebetshaltungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Ebenso die Worte, die beide wählen. Der Pharisäer betet lang und beginnt jeden Satz mit „Ich“: Ich danke Dir, ich bin nicht wie die anderen, ich faste und gebe von allem, was ich einnehme. Er lobt sich auf Kosten von anderen: „Ich danke Dir Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher - oder auch wie dieser Zöllner“. Der Zöllner wiederum bekennt mit einem knappen Satz, wie bedürftig er ist und wie sehr er sich nach Gottes Erbarmen sehnt. Er sagt nur: Gott sei mir Sünder gnädig!

 

Und Jesus beendet seine Erzählung mit dem Satz: Der Zöllner geht gerechtfertigt nach Haus, der andere nicht. Die Pointe dieses Gleichnisses muss für die Hörerinnenund Hörer damals überraschend gewesen sein. Denn Zöllner hatten einen eklatant schlechten Ruf. Dass dieser sich vor Gott als Sünder bekennt, das wird viele verstört und irritiert haben. Ich frage mich heute: Was wird eigentlich aus dem Pharisäer? Bleibt er nicht am Ende als der verlorene zurück? Hätte er nicht der Gnade Gottes ebenso bedurft wie der Zöllner? Ging Jesus nicht in die Häuser von Zöllnern und Pharisäern? Wo verorte ich mich? Bin ich eher der Pharisäer, der darauf achtet korrekt zu handeln, oder der Zöllner, der seine Bedürftigkeit erkennt? Spontan solidarisiert man sich natürlich mit dem Zöllner. Aber Vorsicht. Dieses Gleichnis ist tückisch, liebe Gemeinde: Je mehr man sich nämlich mit dem Zöllner identifiziert und auf der richtigen Seite wähnt, desto besser fühlt man sich, und schon geht man in dieFalle, die Eugen Roth in seinem kleinen 4-Zeiler so treffend beschrieben hat:

 

Ein Mensch betrachtete einst näher
die Fabel von dem Pharisäer,
der Gott gedankt voll Heuchelei
dafür, dass er kein Zöllner sei.
Gottlob! Rief er in eitlem Sinn,
dass ich kein Pharisäer bin!

 

Vielleicht trage ich den Zöllner und den Pharisäer in mir, bin gerechtfertigt und sündigzugleich, simul iustus et peccator. Sündig bin ich in meiner Abwendung von Gott und in der Hinwendung zu mir selbst, Selbstüberschätzung und Überheblichkeit eingeschlossen. Daraus kann ich mich nicht selbst befreien, sondern bin angewiesenauf die Gnade Gottes.

 

Drei Dinge werden mir an dieser Geschichte neu deutlich, liebe Gemeinde: Da ist das Wissen um meine/unsere Bedürftigkeit, dass wir uns den erlösenden Zuspruch, den Segen, das liebevolle Ja-wort nie selbst sagen können. Wir sind angewiesen auf andere und angewiesen auf Gott, der uns mit seiner Barmherzigkeit und Gnade im anderen begegnet. Manchmal sogar in demjenigen, den wir für rücksichtslos, naiv und dumm hielten.

 

Da ist die Haltung, mit der wir einander anschauen und beurteilen. Sie sollte von Achtsamkeit und Respekt getragen sein. Nicht überheblich und abwertend, auch nicht unterwürfig und sich selbst erniedrigend. Versuchen wir den anderen Menschenso zu sehen, wie Gott ihn ansieht: simul iustus et peccator, er ist wie wir, gerecht undsündig zugleich, ganz wunderbar von Gott geschaffen und zugleich immer wieder an den hohen Ansprüchen und Erwartungen Gottes oder seiner selbst scheiternd. Trotz alledem ist er Gottes geliebter Sohn, ist sie Gottes geliebte Tochter.

 

Und ein letztes nehme ich mit: den Mut zur Demut. Nicht im Sinne eines Sich-klein-Machens vor anderen, sondern in der Beschreibung meiner Beziehung zu Gott. Du kannst und musst deine Gottesbeziehung nicht herstellen, leisten, durch wortreiche Gebete oder intensives Fasten beweisen. Sie ist schon da, wenn Du nach ihr fragst, sie ist gegenwärtig, wenn Du sie vermisst. Gott ist sehr treu und sehr verlässlich, gerade weil Du ihn oft vernachlässigst oder schlicht vergisst. Gottes Treue zu mir macht mich demütig, seine Barmherzigkeit stimmt mich barmherzig mit mir selbst und mit denen, die mir das Leben schwer machen. Seine Gnade richtet Dich auf, so dass Du nicht mit gebeugtem Haupt aus der Kirche gehen musst, sondern aufrecht und mit Gottvertrauen.

 

Amen.

 

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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