Predigt am 20. März 2022 – Sonntag Okuli

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

„Es ist genug“ 1. Kön 19, 1–8

 


Liebe Gemeinde,

 

neigen Sie auch zum »Doomscrolling«? Ich habe den Begriff in der Elbvertiefung, dem newsletter der Zeit kürzlich zum ersten Mal gelesen und fühlte mich sofort angesprochen. Er beschreibt nämlich „das immer tiefere Versinken in schlechten Nachrichten. Doom ist Englisch für: Verdammnis, Verderben, Verhängnis,“ als scrolling bezeichnet man das herunterspulen der Nachrichten auf dem smartphone.

 

Ich schaue seit dem 24. Februar mehrmals täglich auf mein Handy und verfolge die aktuellen Meldungen und Bilder des Krieges in der Ukraine, die Einschläge der Raketen, die Angriffe auf Zivilisten, die Zahlen der Toten und Verletzten, die Wege der Flüchtenden und natürlich die bewegenden Videobotschaften des Präsidenten Selenskyj.
Am Donnerstag musste ich auf diesem Handy lesen, dass unsere Bundestagsabgeordneten nach der per Video übertragenen Rede Selenskyjs ihrer lang geplanten Tagesordnung nachgingen, anstatt inne zu halten und über den bedrückenden und fordernden Appell zu sprechen. Ich weiß nicht, wie es ihnen damit ging, liebe Gemeinde? Aber ich habe mich geschämt. Was sind das für Zeiten? Was geschieht mit uns? Wohin soll das führen?
Verstört und sorgenvoll schaute ich danach wieder auf mein Handy, auf der Suche nach weiteren Informationen, traurig über das Leid der eingeschlossenen Menschen, aber auch der russischen Familien, die ihre Söhne in diesem sinnlosen Krieg verlieren, und zutiefst verängstigt über die weitreichenden, weltweiten Folgen dieses Krieges.

 

Hinter dieser man könnte fast sagen „Sucht nach mehr“ steckt eine Sicherheitsstrategie, die seit Jahrtausenden zum menschlichen Wesen gehört, wie ich nun lernte: Fühlen wir uns bedroht, fokussieren wir uns aufs Negative. Wir sammeln möglichst viele Informationen, um die Bedrohung besser einschätzen zu können und idealerweise ganz zu vermeiden. Eine Logik aus der Steinzeit, die bis heute wirkt. Der Krieg taucht so nicht nur in den Bildern und Nachrichten meines Handys auf, sondern in allen Gesprächen, Sitzungen, beruflich wie privat, in Gebeten und in meinen Träumen. Es geht mir so wie es Albert Ostermaier in seinem Gedicht schreibt:

 

Du kriegst den Krieg nicht aus dem Kopf – während die Kugel im Herzen die Wände der Häuser durchschlägt, sitzt du betroffen zuhause, in deinem safe space, mit genügend Raum für die Panik und die Attacken nach den Bildern und Rufen nach mutiger Hilfe, die du und wir verweigern …

 

Du kriegst den Krieg nicht aus dem Kopf und fragst Dich: Was kann ich tun? Wie kann ich helfen? Wie komme ich raus aus diesem deprimierenden Strudel schrecklicher Bilder von Zerstörung und Not? Wie wandle ich mein Mitgefühl, meinen Schmerz in Aktion, in Widerstand?

 

Liebe Gemeinde, ich vermute, diese Frage stellen sich viele unter uns und die Spendeneingänge bei den Hilfsorganisationen sowie die Hilfsbereitschaft unzähliger Ehrenamtlicher offenbaren ein beachtliches Maß an Humanität. Und ja, wir können tatsächlich viel tun: Geld und Zeit spenden, Zimmer zur Verfügung stellen und Flüchtlinge aufnehmen. Aber auch gegen den Krieg demonstrieren und protestieren. Laut und deutlich rufen: Stoppt den Krieg! Es ist genug! Es ist wirklich genug!
Die Menschen in Mariupol und vielen weiteren Städten der Ukraine können nicht mehr, sie hungern und frieren. Kinder sind traumatisiert, verlieren ihre Väter, ihre Heimat und ihre Zukunft. Frauen trösten, schützen, fliehen und sind kommen völlig erschöpft und entkräftet in der Fremde an. Es ist genug! Es ist wirklich genug!

 

Das sind Worte, die der Prophet Elia in dem Predigttext für den heutigen Sonntag, spricht. Es ist genug, sagt er, aus Erschöpfung, aus Einsamkeit, aus Verzweiflung. Hinter ihm liegen grausame Taten, die er, so muss man den Text verstehen, im Namen Gottes an den konkurrierenden Baals-Propheten verübt hat. Der Erzählung zufolge hat er einen Wettstreit mit 450 Propheten des heidnischen Gottes Baal durch ein Feuer- und Regenwunder gewonnen und diese Propheten im Anschluss alle getötet. Eine grausame Episode des Alten Testaments, grausam wie der Krieg. Nun ist er auf der Flucht, weil Isebel, die Frau des jüdischen Königs Ahab, eine Anhängerin des Gottes Baal ist und sich an ihm rächen will und ihm genau das antun will, was er ihren Propheten angetan hat.

 

Elia flieht vor Isebel erst nach Beerscheba und von dort in die Wüste, lässt sich nach einer weiteren Tagesreise erschöpft unter einem Ginsterstrauch nieder und wünscht sich nur noch eins, zu sterben: Es ist genug, so nimm Herr, meine Seele, ich bin nicht besser als meine Väter (V4).  

 

Ich sehe ihn vor mir, liebe Gemeinde, und stelle mir vor, wie verzweifelt er sein muss, verzweifelt über sich, über die zerstrittene Welt und über seinen Gott. Musste es soweit kommen, dass er zum Mörder an so vielen Menschen wird? Wie soll er mit einer solchen Schuld weiterleben? Was wollte Gott von ihm? Er fühlt sich einsam, leer und ausgebrannt.
So wie wahrscheinlich viele Menschen in der Ukraine, so wie gewiss manche Soldaten in diesem ganz und gar sinnlosen Krieg, so wie Zivilisten in Angst und Schrecken in Kellern und U-Bahnschächten, so wie Menschen auf der Flucht ins Ungewisse. Auch sie sind erschöpft, leer und ausgebrannt und werden mit denselben Worten flehen: Es ist genug! Der Krieg muss ein Ende habe, das Töten muss aufhören, Herr, gib uns deinen Frieden!


 
Gott erhört seinen Propheten Elia und sendet ihm einen Engel. Dieser legt ein geröstetes Brot und stellt einen Krug voll Wasser neben Elias Haupt, weckt ihn auf und spricht: Steh auf und iss. Elia isst und trinkt, aber er will noch nicht. Er legt sich wieder schlafen. Der Engel weckt ihn ein 2. Mal: Steh auf und iss, denn du hast einen weiten Weg vor dir. Und so geschieht es: er steht auf, isst und trinkt, und geht durch die Kraft der Speise gestärkt 40 Tage und Nächte durch die Wüste bis zum Berg Gottes, dem Horeb.

 

Welch eine gute Wendung nimmt diese berührende Erzählung. Gott zeigt sich als derjenige, der die verzweifelte Situation Elias sieht (okuli – mit seinen Augen). Er zeigt sich als ein Gott, der das Seufzen, Schreien und Rufen der Notleidenden hört, der nahe ist denen, die zerbrochenen Herzens sind und denen hilft, die ein zerschlagenes Gemüt haben, wie es in dem 34. Psalm heißt. Gott steht denen zur Seite, die in Not geraten, denen Böses widerfährt, denen das Herz zerbricht, weil sie einen geliebten Angehörigen verlieren. Was hier bei Elia durch einen Engel geschieht, erkennen wir in der Passionsgeschichte Jesu wieder, als dieser ganz und gar verzweifelt war, in Gethsemane, am Kreuz, und doch nicht gottverlassen. Gott lässt die seinen nicht im Stich.

 

Liebe Gemeinde, auch unsere gegenwärtige Welt ist nicht gott-verlassen. Auch wir dürfen auf Gottes Beistand und Hilfe vertrauen. Auch uns sieht er, auch uns weckt er auf und gibt uns neue Kraft und Hoffnung für unseren Weg. Auch uns steht er bei auf der Suche nach Frieden, nach einem Frieden, der kommen wird, so wahr und wahrhaftig unser Gott ein Gott des Friedens ist und nicht des Kriegs!

 

Dies möchte ich zum Schluss sehr deutlich sagen: Auch wenn Teile der Bibel einen streitenden, kämpfenden, wütenden Gott schildern, wenn dieser seinen Propheten befiehlt, andere zu töten – so ist das nicht mein, nicht unser Gott. In Jesus Christus hat er der Gewalt abgeschworen und seitdem wirkt er durch die Kraft der Liebe, der Versöhnung und des Friedens. Ich denke, Gott ist lebensbejahend, nicht lebensverneinend. Er ist unablässig schöpferisch, bekämpft und überwindet die Mächte des Bösen in sich, in uns und unter uns durch die Macht seiner Liebe. So wirkt er auch heute und schickt uns seine Engel, manchmal ganz konkret in Menschengestalt, manchmal flüchtig und unsichtbar. Engel, die Kinder und Schwache beschützen, Flüchtende aufnehmen und Kranke heilen. Durch sie gibt er Brot den Hungernden und Wasser den Dürstenden. Er richtet die Verzweifelten auf und sendet sie und alle Welt auf einen Weg, der in den Frieden führt, im Himmel und auf Erden.

 

In diesem Sinne schließe ich mit den Worten: Der Friede Gottes sei mit Euch! Amen!

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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