Predigt am 16. August 2020 – 10. Sonntag nach Trinitatis

Pastor i.R. Sebastian Borck

Fragen nach Gott in diesen Zeiten

 

 

Liebe Gemeinde, stellt Corona unsern Gottesglauben infrage?

 

Klar: Corona stellt infrage. Das Coronavirus bedroht jedes Menschenleben. Und die notwendigerweise getroffenen Vorkehrungen stellen Vieles infrage, was uns gewohnt, lieb und teuer ist, vom Händedruck bis zu Großveranstaltungen. Immer wieder zum Abstandwahren angehalten, spüren wir umso mehr, wie wichtig uns direkte Begegnungen sind und wie sehr wir Nähe und Berührung brauchen. Durch Corona selbst und die Maßnahmen dagegen – beides lässtsich ja kaum mehr auseinanderhalten – sind unsere gesamten Lebenszusammenhänge auf den Kopf gestellt, einschneidend unterbrochen. Corona ist ein unsichtbarer Feind. Das ist unheimlich und macht Angst. Wir haben es nicht in der Hand.

 

Anfangs schien es so, als ob es außer Corona gar nichts anderes mehr gäbe, keine Klima-Fragenund keine Verpflichtung zu nachhaltigerem Leben mehr, keine Kriege und keine Flüchtlinge im Mittelmeer, keine Personalfragen im Gesundheitswesen. So weltweit gleichzeitig und unfassbar, so übermächtig und tausend Fragen aufwerfend ist Corona über uns hereingebrochen, dass allesandere in den Schatten gestellt wurde. Und auf einmal sind so einschneidende Maßnahmen ergriffen worden wie niemals zuvor. Inzwischen dämmert uns, dass wir Corona nicht isoliert sehen dürfen und dass auch die anderen Fragen uns weiter drängen.

 

Nachdenklicher sind wir geworden, fragender, kritischer. Was geht da vor? Was haben wir zu lassen, was zu tun? Ob es eine Zeit geben wird, wo alles wieder ist wie zuvor – oder ob sich mit Corona unser Leben einfürallemal und unwiederbringlich verändert hat? Ist Corona wie eine Vertreibung aus dem Paradies – obwohl wir auch vorher schon nicht paradiesisch lebten?

 

Die Interviews mit Virologen zeigen uns Inseln sehr begrenzten Wissens in einem Meer von Unwissen. Was gestern noch sicher schien, hat sich heute bereits als überholt herausgestellt – so arbeitet Wissenschaft sich voran. Die Hoffnungen sind auf Impfstoffe und neuartige Medikamente gerichtet – aber werden immer neue Pandemien kommen, die unsere Zukunft bestimmen? Wo wir mit soviel Unsicherheiten zurechtkommen müssen – was gibt uns Halt?

 

Offenbar geht es um die Erfahrung einer Übermacht, eines Abgrunds, des Kontrollverlusts undum die Auseinandersetzung damit. Sind diese Fragen nicht klassisch die Fragen der Religion? Oder hat die weltweite Heimsuchung durch Corona mit Gott nichts zu tun? Schlimmer noch: hat das Vertrauen auf Gott zum Aushalten und widerständigen Bewältigen dieser Krise nichts beizutragen?

 

Wo bleibt, wo beinah alles in Mitleidenschaft gezogen ist, das Vertrauen "Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich"? Wo wird, wo kaum etwas ohne Verunsicherung passiert, die Zusage vernehmbar "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein"?

 

Im öffentlichen Gespräch hat die Pandemie Fragen nach Gott gezeitigt: Ob Corona eine Strafe Gottes sei, sind die Bischöfinnen und Bischöfe wieder und wieder gefragt worden – und haben unisono versichert: Natürlich nicht, um Gottes willen nicht: was wär das für ein Gottesbild! und um unseretwillen nicht: wir sind doch erwachsene Leute. Aber – habe ich mich gefragt – wieso sind sie da so sicher? In früheren Zeiten hätte man das doch profetisch-klar so gedeutet: als ein Ergehen, das Antwort ist auf unser Tun, als Gericht über unsere rücksichtslose Lebensweise, als Ruf zur Veränderung: Lasst ab von eurer grenzenlosen Zerstörung der Natur, die heimtückische Kräfte, Viren und anderes freisetzt und auf uns zurückschlägt; wie alles Leben ist auch der Mensch nur Teil der Natur, eingebunden und verwundbar; kehrt um, es ist 5 nach 12!

 

Wollen wir heute wirklich behaupten, was derzeit geschieht und noch lange nicht zu Ende ist, hat mit Gott nichts zu tun?

 

Es ist nicht die Zeit für Spekulationen über Gottes Handeln in der Geschichte. Auch ich kann einem lauten Gott nicht das Wort reden, einem erhabenen Gott, der dreinschlägt mit einem Virusund seine Welt zur Räson bringt, auf dass alle kleinbei geben und wieder gehorsam zu ihm hingekrochen kommen – nein, so funktioniert das nicht.

 

Doch in der öffentlich markierten Enttäuschung, in Corona-Zeiten hätten die Kirchen sich nur beflissen angepasst und in der Sache geschwiegen, spüre ich, hinter Sprachlosigkeit verborgen, eine große Sehnsucht. Sehnsucht nach einer Orientierung, die Wissenschaft sehr ernst nimmt, aber doch stärker ist als all unser Forschen und Vermögen, nach einer Vergewisserung, die weiter reicht als unser menschliches Wissen, Sehnsucht nach einem Halt, der tiefer gegründet istals wir selbst.

 

Wo ist Gott, in Corona-Zeiten und auch sonst? Wo ist Gott, wenn wir nicht wissen, wohin es uns verschlägt? Ist er auch dort?

 

"Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott bei dir sucht: Gerechtigkeit tun, Freundlichkeit lieben und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott" (Micha 6,8 in der Übersetzungfür den Kirchentag). Nehmen wir das als Richtungsweisung:

 

In den Fragen ist Gott uns näher als wir uns selbst. In dem Gewissen, das uns schlägt. In der innersten Beziehung, ohne die wir nicht sind, was wir sind: Menschen. In der offenen Unsicherheit, also in den Fragen nach unserem Leben und unserem Sterben, ja auch in unserer Sterblichkeit als unerlässlichem Bestandteil unseres darum teuren und einzigartigen Lebens. Gottist mir näher als ich mir selbst – was weiß ich denn über mich? Empfänglich und dankbar kann ich sein, dass ich bin.

 

Fragen über Fragen: Ist Gott in allem? – nein, er bleibt Gegenüber. Ist Gott Person? – nein, er ist mehr als das, aber bestimmt nicht weniger.

 

Wenn das einen Menschen ausmacht: die Beziehung und Begegnung mit einem Gegenüber, wenn das Gespräch mit einem Du sozusagen die Spitze ist – dann wird Gott und die Beziehung zu ihm nicht dahinter zurückbleiben.

 

Wenn das einen Menschen ausmacht: das Nachdenken und die Stimme des Gewissens – dann wird auch die Gottesbeziehung nicht weniger sein, sondern beides umfassen, das Wissen um die Geschichte – Gott kennt mich – und die Ermutigung zu neuem Anfang – brich nochmal neu auf!

 

Wenn das einen Menschen ausmacht: immer wieder offene Fragen – dann kann Gott nicht einfach Antwort sein, Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis, vielmehr: mit unseren Erkenntnissen und in unseren Fragen führt sein Weg mit uns ins Offene.

 

Es ist das Wunder lebendiger Beziehung, das dieses Gottesbild prägt und trägt. Dass wir überhaupt sind und nicht vielmehr nicht! Dass wir stets in Beziehungen leben, Gegenüber sind und sein können: zu anderen, zur Welt, zu uns selbst wie zu Gott! Höchste Freiheit ist das und tiefste Geborgenheit in einem!

 

Unter den Beziehungen, die zum Menschsein gehören, ist die Gottesbeziehung die aller-intimste:Mein Jauchzen und mein Seufzen zu Gott kann mir niemand nehmen.

 

Zugleich hat dieses beziehungsorientierte Grundverständnis der Menschen und der Welt öffentlich und weltweit Folgen – ich kann das hier nur noch andeuten: Ohne Beziehungen, ohne gemeinsame Anstrengungen, ohne Verträge, ohne gemeinsame Sicherheit kein Erfolg gegen Pandemien, gegen den Klimawandel, gegen Ausbeutung, Unfrieden, Entwurzelung und Migration. Wer das Gewissen zum Schweigen bringt, verweigert andern und sich selbst die Zukunft.

 

Vormachtstreben scheint zwar immer wieder das Stärkste zu sein. Potentaten scheint durch nichts beizukommen zu sein. Aber seit Jesu Verkündigung, Tod und Auferweckung ist solches Machtgebaren im wahrsten Sinne durchkreuzt und überwunden. Was wir in der Welt sehen an Machtgebaren – es hat keine Zukunft.

 

Gottes Beziehung hält uns im Leben und hilft aushalten. Seine Beziehung reicht in alles hinein. Vernehmen wir in den offenen Fragen seinen Ruf und gehen wir aufmerksam mit ihm mit!

 

Amen.

 

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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