Predigt am 9. August 2020 – 9. Sonntag nach Trinitatis

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

Auftakt der Gottesdienstreihe „Auch Gott hat viele Namen“ zu Jeremia 1, 4-10

 

 

Liebe Gemeinde,

 

als meine Referentin Anne Wehrmann mich fragte, ob wir in St. Katharinen die Gottesdienstreihe „Auch Gott hat viele Namen“ mit dem Frauenwerk der Nordkirche und den Hamburger Kirchenkreisen eröffnen können, sagte ich: ja, natürlich! Immerhin sind wir die einzige Hamburger Hauptkirche, deren Namensgeberin eine weibliche Heilige ist. Außerdem sind viele Frauen in St. Katharinen aktiv, im Haupt- und im Ehrenamt. Und drittens: Ich fand es persönlich interessant, mich mit dem Themen Geschlechtergerechtigkeit/gendersensible Sprache zu befassen, bin ich doch von meiner theologischen Prägung her eher der traditionellen Sprache zugewandt. Sie hören mich selten aus der Bibel in gerechter Sprache zitieren, und ich ersetze nicht konsequent die Anrede „Herr“ durch „Gott“ oder ergänze Vater im Vaterunser durch Mutterunser... Also, dachte ich, es ist doch reizvoll, einmal wieder über meine, unsere Sprache nachzudenken:

 

Denn unsere Sprache bildet die Wirklichkeit nicht nur ab, sie stellt sie auch neu her. Sprache schafft Wirklichkeit. Mit ihr geben wir Menschen und Gegenständen einen Namen und konstruieren die Welt. Schauen wir auf die Sprache unseres Glaubens: Die Dominanz der männlichen Begriffe für Gott z.B. ist keineswegs „gottgegeben“. Sie bildet eine patriarchiale Wirklichkeit ab. Sie rührt daher, dass das religiöse Leben der vergangenen Jahrhunderte vor allem von Männern gestaltet wurde. Macht, Herr-schaft, Herr-lichkeit, Vater, Sohn und Heiliger Geist – alles männlich konnotierte Begriffe. Erst die feministische Bewegung hat diese Einseitigkeit durchgebrochen und die theologische Wissenschaft aufgefordert, auch die weiblichen Spuren in der Bibel zu erforschen. Und damit kam Erstaunliches, Erhellendes und sehr Schönes ans Licht: Die Gottesnamen und -bilder der Bibel sind keinesfalls nur männlich: Er/Sie ist die Weisheit, die Kraft, die Quelle, wird verglichen mit einer Henne, die ihre Küken unter dem Schatten ihrer Flügel schützt... Keines dieser Bilder kann Gott ganzerfassen. Sie sind durchweg recht bescheidene Versuche, um eine Wirklichkeit zu beschreiben, die unfassbar, unergründlich, unerschöpflich ist. Gott ist daher auch weder männlich, noch weiblich. Diese bipolaren Zuschreibungen sind vielleicht für diedeutsche Grammatik hilfreich. Die himmlische und irdische Welt wird damit nur ungenügend erfasst. Denken sie nur an die Engel, auch sie lassen sich keinem Geschlecht zuweisen.

 

Die Genderforschung nun hat gezeigt, dass die Aufteilung der Menschheit in zwei Geschlechter auch eine Folge von kulturellen Konventionen und Konstruktionen ist. Es gibt biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber die gegenwärtige Stellung und Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern ist keineswegs biologisch gegeben. Um es einmal konkret zu machen: Biologisch bin icheine Frau, aber deswegen bin ich nicht emotionaler, einfühlsamer, verständnisvoller, nachgiebiger als mein Mann? Deswegen gehöre ich nicht an den Herd’ , in den Haushalt oder in die Pflege. Deswegen muss ich nicht schweigen in der Gemeinde oder mich dem Mann unterordnen. So sind wir Frauen nicht von Natur aus! Auch Männer verweigern sich vergleichbaren Zuschreibungen. Hinter diesen Vorstellungenstehen Deutungen, die über Jahrhunderte das vermeintlich schwache Geschlecht einem vermeintlich starken gegenüberstellen. Die Realität ist viel bunter, viel weniger eindeutig. Es gibt transidentente Menschen, die im biologischen Körper eines Mannes geboren werden, aber ganz tief in sich wissen, dass sie als Frau gemeint sind.Und umgekehrt. Wir begegnen intersexuellen Menschen, die biologisch weder eindeutig männlich noch weiblich zuzuordnen sind und dies für sich zum Teil auch ablehnen. Sie finden für ihr drittes Geschlecht kein Kästchen im Pass oder Fragebogen. Unter Gottes Sonne leben Frauen und Männer mit diversen Identitäten und unterschiedlichen sexuellen Lebensformen. Geschlechtlichkeit hat viele Namen und Facetten! Daran wird deutlich: Wir alle sind mehr und anders, als wir äußerlich erscheinen. Und wir übernehmen im Lauf unseres Lebens verschiedene Rollen, eigene und fremde. Mal sind wir mit uns eins, mal zweifeln an unserem Selbst, und fragen, wer wir wirklich sind.

 

Vor diesem Hintergrund lese ich die Berufungsgeschichte des Propheten Jeremia und entdecke in ihr neues und spannendes. Jeremia wird von Gott zum Propheten auserkoren. Nicht weil er ein frommer Mann und ausgezeichneter Redner war. Nicht weil er sich durch Klugheit und Mut bewiesen hatte. Nein, schon vor seiner Geburt hat Gott ihn erwählt, schon vor seiner Zeugung lebte er in Gottes Gedanken: „bevor er ihn im Mutterleib formte und bevor er aus dem Mutterleib hervorkam“ hat Gott ihn geschaffen. Dass Gott den Menschen ins Leben ruft und ihm sein individuelles Leben schenkt, ist ein Grundgedanke unseres Glaubens. In jeder Taufe spreche ich ihn aus. Wir Menschenkinder sind Gottes Kinder, sind auf der Welt, weil Gott es will. Und sogleich stellt sich die Frage: Was aber hat er mit uns vor? Wozu sind wir berufen? Welches ist unsere Bestimmung? Ist sie uns vorgegeben oder machen wir sie selbst? Heute wissen wir, wie stark die äußeren Prägungen durch Kultur und Erziehung sind, und wie sehr wir zu Frauen und Männern „gemacht“ werden. Manchmal verstört uns das und wir wissen gar nicht so genau, wo wir hingehören.

 

Jeremia sollte Prophet werden und das bedeutete damals, dem Volk Israel die StrafeGottes anzusagen und vor dessen Nachbarn zu warnen. Er sollte ihnen den Untergang des Nordreichs und die Zerstörung Jerusalems voraussagen, keine besonders erstrebenswerte Aufgabe. Nur allzu verständlich ist seine Reaktion auf Gottes Ruf: „Ich bin zu jung, zu unerfahren, – und überhaupt, ich kann nicht gut reden“, entgegnet er. Er will nicht Gottes Unheilsprophet sein und weigert sich. Er kann Gottes Erwartung nicht erfüllen. Die Vorstellung, vor Freundinnen und Feinden öffentlich zu reden, ängstigt ihn zutiefst. Es scheint, als ahne er die Anfeindungen, die er erleiden wird, die Einsamkeit und Verzweiflung, die kommen werden. Wer bin ich?, wird er sich gefragt haben? Der, den ich sehe, oder der, den Gott in mir sieht? Gott antwortet auf seine Zweifel mit einer stärkenden und mutmachenden Zusage: „Wohin ich dich schicke, dorthin sollst du gehen, und was ich dir auftrage, das sollst du sagen“. Gott will ihm die Worte in den Mund legen, er will bei ihm sein und bei ihmbleiben. Gott will ihm die Kraft geben, die er braucht, um auszureißen und einzureißen, was aufhören soll, zugrunde zurichten und niederzureißen, was ein Ende haben muss, und um aufzurichten und einzupflanzen, was Zukunft hat. „Hab keine Angst“, sagt Gott, „ich bin mit dir um dich zu retten!“ So geschieht es und Jeremia nimmt die Aufgabe an, mit Gott an seiner Seite.

 

Liebe Gemeinde, so besonders und einzigartig dieser Weg verläuft, so besonders und einzigartig sind die Wege Ihres Lebens. Sie fragen sich jetzt vielleicht: Bin ich meiner Berufung gefolgt? Habe ich eine solche überhaupt vernommen? Bin ich die Person geworden, die ich sein wollte? Bin ich im Kontakt zu diesem ganz tief verankerten, intuitiven Wissen um mein Selbst? Bin ich meiner selbst darin gerecht geworden bisher auf meinem Weg? Habe ich darin Gottes Gerechtigkeit offenbar werden lassen vor anderen? Oder habe ich sie vor mir, vor anderen verborgen, weil ich mich einfach nicht getraut habe? Was musste ich einreißen und ausreißen, um frei zu werden und neu anzufangen? Was durfte ich aufrichten und pflanzen, bauen und gestalten? Wo durfte, wo darf ich mich mit meinen Begabungen und Fähigkeiten einbringen? Wo habe ich meine Kräfte überschätzt? Habe ich Gott dabei an meiner Seite gespürt oder habe ich mich verlassen gefühlt? War Gott da wie ein Vater, der mich in die Arme nimmt, oder wie eine Mutter, die mich tröstet? Wie eine Quelle, die mich erquickt oder wie die Liebe, die mich erfüllt?

 

So viele Fragen und vermutlich sehr vielschichtige Antworten. Ja, nein, vielleicht, manchmal, so pauschal kann ich das nicht sagen... So vielfältig wie Gottes Namen sind, so mehrdimensional sind wohl unsere Antworten. Gott ist ihr Ursprung, als eine Kraft, als ein Drängen, das uns sein bzw. ihr Wesen in uns selbst offenbart und das nicht nur einmal, sondern jeden Tag neu und anders. Was für eine wunderbare Chance, Gott und uns selbst immer wieder neu und anders begegnen zu können! Das tröstet und macht Mut, sich der Frage zu stellen, wer wir sind und wer Gott für uns ist. Hören Sie dabei auf die Stimme ihres Herzens und seien Sie bereit für überraschende, neue, aufrüttelnde, ja, mehrdimensionale Antworten, die Gott ihnen da mitgeben möchte.

 

Amen.

 

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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