Predigt am 06. März 2022 – Sonntag Invokavit

Pastorin Carolin Sauer

„Alles ist jetzt“ (2.Kor 6,3)

 

Predigttext: 2.Kor 6, 1–10

 

Versprechen an eine Taube (Gedicht von Hilde Domin):
Taube,
ich suchte einen Tisch
da fand ich
dich,
Taube,
auf dem Rücken liegend
die rosa Füße an den hellen Leib gepreßt
abgestürzt
aus dem Licht,
Botin,
in einem Trödelladen.
(„Versprechen an eine Taube“ von Hilde Domin)

 

Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils! (2.Kor 6,3) – so Paulus.


Alles ist jetzt!
Sicher? Wäre nicht diese Frage angemessener: Was ist denn alles jetzt schon wieder?
Jetzt ist der Tag des Heils! Wenn das so ist, dann bitte lieber nicht! Gerade kommt mir leichter eher über die Lippen: Jetzt ist der Tag des Unheils! Ich will die Bilder und Berichte der letzten Tage nicht noch einmal detailliert nachzeichnen. Wir haben sie alle wieder und wieder gesehen und gehört. Es ist Krieg: Menschen leiden. Menschen fliehen. Menschen bangen. Mir kommen Gesprächen über Angst und Verunsicherung in den Sinn. Nie wieder Krieg, dafür hatten wir uns doch eingesetzt, sagte eine Frau. Ich merke mein Schaudern angesichts der lügnerischen Rhetorik, die nicht vom Krieg spricht, sondern von einem militärischen Sondereinsatz. Doch die Flüchtenden an den Grenzen, die von Bomben erzählen, die verunsicherten Gesichter derer, die loszogen ohne zu wissen, dass Sie in den Krieg ziehen, sie sprechen eine andere Sprache. Mama, sie haben uns verraten; schreibt ein russischer Soldat an seine Mutter.
Siehe jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!
Ganz im Gegenteil! Nichts ist heil!

 

Alles ist jetzt! Paulus Worte klingen in diesen Tagen mehr als provokant.
Es sind Worte aus dem Buch des Propheten Jesaja, die Paulus an alle richtet, die schon in gemeinsamer Sache unterwegs sind. Die ihren Glauben leben und von ihm erzählen. An Christinnen und Christen. An uns! Dann mal los, Paulus- Was ist denn alles jetzt?


Da stehen drei Listen: Die erste enthält neun Herausforderung der Zeit, die zweite zählt neun Tugenden auf und die dritte neun Gegensätze.
Paulus beschreibt da Hier und jetzt seiner „Heilszeit“ mit einer ziemlich gehaltvollen, ich finde fast schon erschlagenden Auflistung seiner Erfahrungen.


Die neun Herausforderung seiner Zeit sind: Geduld walten lassen, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten leben, Schläge für das, was man glaubt und laut ausspricht, aushalten, Gefängnisaufenthalte und Aufruhr ertragen, sich mühen und immer wachsam sein. Herausforderungen, die gar nicht mal so fern sind. Für alle Kriegskritiker:innen in Russland ganz sicher nicht. Was würden Sie hier, was würden wir aus der heutigen Zeit für uns in der Liste ergänzen: Vielleicht ja das: Die Kraft aufbringen nicht wegzuschauen, nicht den Mut zu verlieren, die Hoffnung nach einem friedlichen Ende wach zu halten und sich dafür einzusetzen…


Dafür braucht es das, was Paulus als Tugenden aufzählt. Und ganz sicher noch mehr: im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, und mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken.
Christliche Tugenden: Wahrheit, Liebe, Fokus auf das, was wichtig ist, Ehrlichkeit, Wissensdurst, ein langer Atem, Liebe und ein liebevoller Blick…


Jetzt ist die Zeit des Heils! So naiv das klingt, auch Paulus weiß, dass dieses radikale JETZT einen Preis hat. Und es ist heute und auch bei Paulus ganz sicher kein Weichspülprogramm. Sein „alles ist jetzt“ kennt die Ambivalenzen des Lebens auf dieser Welt nur zu gut. Paulus war selbst im Gefängnis, in Abschiebehaft, wurde geschlagen und getreten. Davon schreibt er. Und dennoch ist alles jetzt. Gottes Diener:innen und Diener, so zählt er in seiner letzten Liste mit den Gegensätzen auf, leben in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.


Jetzt ist die Zeit des Heils, paradox damals wie heute. Und zugleich macht es mit der Erfahrung auf dieser Welt ernst. Das Leben als Christin ist radikal mehrdimensional. Alles ist jetzt. Wir leiden und lieben, wir werden nicht für voll genommen und dennoch haben wir noch Kraft zu segnen, wir sterben und pflanzen Apfelbäumchen, hoffen auf einen neuen Himmel und eine neue Erde und verabschieden uns dennoch nicht von dieser Welt. Wir sehnen uns nach Versöhnung und sind doch schon Gottes Kinder.
Alles ist jetzt, nicht morgen: Das ist ein radikaler Aufruf, diese Mehrdimensionalität zu halten. Auszuhalten. Sich nicht vertrösten zu lassen auf ein besseres Morgen und sich im heiligen Kokon zu verschanzen. Aber auch nicht im blinden Aktionismus unseren Glauben, unsere Liebe und unsere Hoffnung zu vergessen. Dass wir bereits Getragene sind von Gottes Gnade. Alles ist jetzt. Dem zu dienen ist eine Aufgabe.


Die Friedenstaube, die vom Anfang aus dem Trödelladen, Symbol für unsere Hoffnung, die brauchen wir auf jeden Fall, auch wenn sie gerade nicht fliegen kann.
Und nicht nur die. Für einen Klapptisch sollte auch noch Platz sein, so Paulus. Denn das griechische Diakonoi, also Diener:inner sein, zu dem wir alle aufgerufen sind, wird im Neuen Testament oft mit dem deutschen Wort Tischdiener übersetzt. Tragt Gottes Klapptische in diese Welt.


Nicht die langen schweren Tische. Nicht den sechs Meter langen und 2,60 breiten. Nicht den, an den Wladimir Putin Emmanuel Macron und Olaf Scholz zum Gespräch lud und in Wirklichkeit gar nicht bereit war zum Gespräch. Nicht die Tische, die größtmöglichen Abstand markieren. Sondern den Kaffeetisch, an dem Sorge und Schmerz, Hoffnung und Zuversicht geteilt wird. Den Tapeziertisch, an dem Plakate gemeinsam gestaltet werden, für die nächste Friedens-Demonstration. Die Küchentische mit Kaffeekannen, an denen es auch kontrovers zugehen kann und wird. Wo man sich noch richtig verstehen will, auch wenn das Kraft kostet. Errichtet Runde Tische, mitten auf den Rissen, errichtet einen widerständigen Freiraum, macht Platz für Gott. Der selbst immer wieder zu Tische geladen hat, auch die, die ihn verrieten.
Alles ist jetzt! Jetzt ist die Zeit.


Der Ruf gilt uns, aber ich finde nicht nur. In diesen Tagen wird er für mich auch zum radikalen Ruf zu Gott. Der Ruf wird zum (Tisch-)Gebet: Gott, alles ist jetzt! Schau doch nur, was alles ist. Jetzt ist die Zeit. Komm, Herr Jesus und sei unser Gast!

 

Versprechen an eine Taube:
Taube,
ich suchte einen Tisch
da fand ich
dich,
Taube,
auf dem Rücken liegend
die rosa Füße an den hellen Leib gepreßt
abgestürzt
aus dem Licht,
Botin,
in einem Trödelladen.


Taube,
wenn mein Haus verbrennt
wenn ich wieder verstoßen werde
wenn ich alles verliere
dich nehme ich mit,
Taube aus wurmstichigem Holz,
wegen des sanften Schwungs
deines einzigen
ungebrochenen
Flügels.
(„Versprechen an eine Taube“ von Hilde Domin)

 

AMEN

 


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