Predigt am 15. April 2022 – Karfreitag

Pastorin Carolin Sauer

„Sie sahen das alles.“ (Lk 23,49)

 

Predigttext: Lk 23,32-49

 

Sie hat sich eingenistet
Sie kreist mich ein
Sie war schon immer da
Sie macht sich in mir breit
Sie lehrt mich todeswünsche
Sie will daß ich vergesse
Ich soll ihr dankbar sein
(Gedicht: Ich soll ihr dankbar sein (Dorothee Sölle))

 

Was sehen sie nur? Die, vielen, die da waren, vor fast 2000 Jahren.
Volk, Soldaten, Übeltäter, der Hauptmann, noch mehr Volk, Bekannte.

 

Was nur sahen sie anderes als heute?
Einen Volksfeind, Schwächling, einen Verbrecher, eine willkommene Projektionsfläche, einen Betrüger, einen Aufständigen. Einen, den niemand braucht.

 

Sie hat sich eingenistet
Sie kreist mich ein
Sie war schon immer da
Sie macht sich in mir breit
Sie lehrt mich todeswünsche
Sie will daß ich vergesse
Ich soll ihr dankbar sein


Was sahen sie nur? Die vielen, die da waren: in Clausnitz vor 6 Jahren. Als ein Bus mit Geflüchteten kam. Und der Weg zur Unterkunft von etwa 100 Demonstrierenden blockiert wurde. Sie schlugen auf den Bus. Einige mit ihren Kindern im Schlepptau. Manche als stille Beobachter:innen, andere lautstark skandierend: „Wir sind das Volk“. Familienväter, Hooligans, Nachbarn:innen, Polizist:innen.

 

Was nur sahen sie anderes? In Clausnitz?
Sahen sie nicht mehr Individuen im Bus, sondern einzig generalisierte negative Eigenschaften. Sahen nicht die Hoffnung nach Frieden in den Augen. Sahen sie nicht die Musikerin mit ihrem Sohn, der am liebsten Purzelbäume schlägt. Die Großmutter, die nochmal einen Neuanfang wagen wollte, aus der Hoffnungslosigkeit heraus. Sahen sie nicht die Sehnsucht nach Schutz.

 

Sie hat sich eingenistet
Sie kreist mich ein
Sie war schon immer da
Sie macht sich in mir breit
Sie lehrt mich todeswünsche
Sie will daß ich vergesse
Ich soll ihr dankbar sein

 

Und heute? Was sehen sie nur? Die, die in Butscha waren, wo jetzt Leichen die Straße säumen.

 

Die, die draußen waren, und schossen. Was sahen die Soldaten der Streitkraft. Das, was sie gesehen haben, stimmt das überein mit dem, was der junge Mann, den die Nachrichten Viktor nenne, gesehen hat? Er ist gebürtig aus Butscha. Als die Soldaten kamen, hat er sich versteckt. Noch hat er keine Worte. Früher war er Journalist. „Jetzt kann ich noch nicht erzählen. Es geht noch nicht, sagt er.“ Aber er will. Es braucht noch Zeit.


Sie hat sich eingenistet
Sie kreist mich ein
Sie war schon immer da
Sie macht sich in mir breit
Sie lehrt mich todeswünsche
Sie will daß ich vergesse
Ich soll ihr dankbar sein
dass ich esse und singe
soll ich ihr danken
mein Leben lang
der blutigen und der weißen
der hämischen und der bunten
der knochenverkrebsenden
und der säuselnden
soll ich dienen
mein Leben lang
Der einen und einzigen
GEWALT
(Ich soll ihr dankbar sein- von Dorothee Sölle)

 

Ein großes Spektakel. Auf Golgatha. Gewalttätig nicht nur die Todesstrafe…das Kreuz. Gewalttätig auch die Sprache derer die dabei sind: der Oberen und der Soldaten, des Mitgekreuzigten: „Hilf dir doch selbst“, schleudern sie dem Hilflosen entgegen. Zynisch ist das. Worte wie Schläge.

 

„Und sie sahens“….so erzählt es der Autor des Lukasevangeliums in seiner Kreuzigungserzählung. Er rahmt die Todesszene mit diesen Worten: „Und sie sahens“. Die Spottenden und die Freund:innen, das Volk, alle. Dreimal kommt das vor. Ob es ein Zufall ist? Dreimal verleugnen, dreimal die Erinnerung an die vielen, die sehen?

 

Sicher ist es aber Zufall, dass die Buchstaben des Wortes: SAHENS im Deutschen anders zusammengestellt das Wort Hassen ergeben. Irgendwie verschmelzen sie dennoch in der Gewalt.

 

Die Kreuzigung, sie wird als ein großes Spektakel mit vielen Augenzeug:innen beschrieben. Die Stimmung ist aufgeheizt, steigert sich. Vergiftet, die Menschenmenge. Sieht niemand mehr den Menschen? Wie können sie dabei zusehen. Was sehen sie? Wie können sie sich dieser Gewalt aussetzen und zugleich Teil von ihr werden.

 

Hass lebt vom Aus- und Überblenden, von der Dialektik des Unsichtbarmachens und zugleich Sichtbarmachens, so Carolin Emcke in ihrem Buch: „Gegen den Hass“. Auf einmal wird die oder der Verhasste gar nicht mehr als individuelle Person wahrgenommen. Er oder sie wird unsichtbar mit den Sorgen und Ängsten, mit der eigenen Geschichte. Auf einmal ist der Mensch kein einzigartiges Teil des großen Wirs mehr.

 

Sichtbar hingegen die Ausgrenzung aus dem Wir: Du bist das „Nicht-Wir“. Radikal anders. Das rufen die Menschen in Clausnitz mit dem historisch-grauenvoll verdreht und instrumentalisierten Ruf: Wir sind das Volk. Und es schwingt mit: Ihr nicht!

 

Der Hass kennt keine Facetten, so Emcke, er kennt nur die Engführung der Wirklichkeit. Alles ist einfach. Ja oder Nein: Wer in der aufgeheizten Stimmung die Invasoren in der Ukraine nicht begrüßt, der hat kein Recht auf Leben, auch wenn er gerade einfach die Straße mit dem Fahrrad entlanggefahren ist… wer nicht von hier ist, so in Clausnitz, hat hier nichts zu suchen. Wer von einer anderen Welt erzählt, wie Jesus es tat: wo nicht die Macht der Stärkeren das Maß aller Dinge ist, wo Gemeinschaft gelebt, Lebenswichtiges geteilt wird, wo das große Wort „Shalom“, das meint Frieden, auf einmal spürbar wird, der kann vereinfacht gesehen nur eins sein: Ein Staatsfeind. Politischer Anführer. Ein potentieller Gegenkönig. Das wird Jesus in der Kreuzigungsszene zugeschrieben. Wenn das keine Vereinfachung Gottes auf Erden ist!

 

Da hängt er. Und mit ihm stirbt die Hoffnung aller auf diese ganz andere Welt. Die mehr bereit hält als die Spirale von Hass und Gewalt. Und die Menge spottet. Es wird finster. Der Vorhang zerreißt. Jesus ist tot. Und mit ihm all das, was die die Jünger:innen veranlasst hat alles zu verlassen und mit Jesus auf die Reise zu gehen. Alles ist vorbei. Gott am Kreuz.

 

Sie war schon immer da
Sie macht sich in mir breit
Sie lehrt mich todeswünsche
Sie will daß ich vergesse
Ich soll ihr dankbar sein
dass ich esse und singe
soll ich ihr danken
mein Leben lang
der blutigen und der weißen
der hämischen und der bunten
der knochenverkrebsenden


und der säuselnden
soll ich dienen
mein Leben lang
Der einen und einzigen
GEWALT

 

Ich will nicht dankbar sein, der Gewalt. Auch wenn ich zu oft nicht weggehe, ich selbst Zuschauerin bin, Resonanzraum des Lieblosen.

 

Vater vergib, ich weiß nicht was zu tun ist!

 

Phantasie, so Carolin Emcke, ist ein Weg gegen Hass, gegen die Vereinfachung. Vorstellungsräume wieder zu erweitern. Im hier und jetzt. Im Unheil zumindest die Möglichkeit des Glücklichwerdens wachzuhalten. Gegen allen Schein. Und der Mut, andere Perspektiven einzunehmen als die hasserfüllte. Das kann ein Weg gegen den Hass sein.

 

Victor, der sich in Butscha versteckt hat hält diese Phantasie trotz dem erlebten Grauen wach. Weil er daran glaubt, dass es eine Zeit geben wird wo seine Aussage, was in Butscha geschehen ist, Dinge wieder ins Recht rücken kann. Und auch die Frau, die die Geflüchtetenunterkunft in Clausnitz vorbereitet hat hält die Vorstellungsräume weit. Mit Obst und mehrsprachigen Plakaten hat sie alles schön gemacht. Sie bleibt. Auch nach Stunden. Bis die Verängstigten ankommen. Eine Nacht wird sie neben einer Frau sitzen. Weil jetzt eben nicht alles egal ist. Mutig ist das!

 

Von Menschen, die die Hoffnung wach halten erzählt auch der Autor des Lukasevangelium. Es sind drei, die in der Situation des Grauens die Vorstellungsräumen weit halten, obwohl alles eng, erdrückend, vergebens scheint.

 

Einer ist der Übeltäter, der am Kreuz hängend die Schmährede des anderen unterbricht und in seinem gewaltvollen Tod die Möglichkeit des Glücklichwerdens wachhält: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Reich-Gottes-Rede, wo nichts ferner zu sein scheint. Halt den Raum für mich frei, so bittet er.

 

Der zweite ist der Hauptmann. Er beobachtet Jesu Todeskampf und nimmt eine andere Perspektive ein als Volk und Soldaten: Ein Loblied kommt über seine Lippen. Es wirkt fast verrückt! Er sagt: Fürwahr, dieser ist ein Gerechter gewesen.

 

Und es ist der Eine, der auf radikalste Weise die Vorstellungsräume weitet. Jesus am Kreuz. Gott selbst im Grauen der Finsternis, der in Spott und in Hohn ein Wort in den Mund nimmt, das bei all dem Erlebten eigentlich im Halse stecken bleiben müsste. Ein Wort, das an der Beziehung festhält und zwar allem Erlebten zum Trotz. Der letzte Satz am Kreuz beginnt mit diesem Wort: Vater!

 

Sie war schon immer da
Sie macht sich in mir breit
Sie lehrt mich todeswünsche
Sie will daß ich vergesse
Ich soll ihr dankbar sein

 

Ich will das nicht! Vater, ich berge meinen Geist in deine Hände!

 

AMEN

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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