Predigt am 05. Juni 2022 – Pfingstsonntag

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

Text: Röm 8, 1-2.10-11
Kantate: Thomas Selle, Veni sancte spiritus

 

 

Liebe Gemeinde!

 

Ich kann in den Text der Kantate nur einstimmen: Komm, Heiliger Geist. Wenn ich mich in unserer Welt umschaue, kann ich nur bitten: Komm, heiliger Geist! Mehr noch, ich kann mir eine Zukunft unserer Welt gar nicht mehr ohne ihn vorstellen.

 

Ein neuer, ein erneuernder Geist muss her! Weil es so nicht weitergehen kann. Weil wir neue Ideen brauchen. Ein neuer Geist, der uns einem neuen Miteinander verhilft, mit der Natur und mit uns selbst.

 

Ein neuer Geist muss her, der unsere Phantasie beflügelt für einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine, ein Geist, der Hass überwindet und Gemeinschaft stiftet.

 

Ein neuer Geist muss her, der das Leben der Fische, der Fliegen, der Füchse und der Fauna schützt und bewahrt, damit diese Erde nicht an unserem Raubbau und Plastik erstickt. Wir haben ja nur diese eine!

 

Ein neuer Geist muss her, der uns belebt, als Menschen des Glaubens, als Gottes geliebte Kinder, als Zeugen und Botschafterinnen der Menschenliebe und der Lebensfreude Gottes.

 

Pfingsten – weht er hinein in unsere alten Gemäuer, in unsere erschöpften Gemüter und unsere sehnsüchtige Welt. Pfingsten ist das Fest des erneuernden, belebenden und befreienden Geistes Gottes.

 

Liebe Gemeinde, ich habe in den vergangenen Wochen ein faszinierendes Buch gelesen, das für mich diesen neuen Geist aus der Perspektive des Islams beschreibt. Es ist ein fiktives Gespräch eines Vaters mit seiner 12jährigen Tochter über den Islam und den Dialog der Religionen. Der Autor ist der preisgekrönte Schriftsteller Navid Kermani und das Buch trägt den Titel: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ – er meint damit, jeder soll von da, wo er ist, ein Stück näher kommen zum Glauben, zu Gott. Ein bezeichnender Titel, denn tatsächlich steht jede und jeder von uns im Blick auf den Glauben an anderer Stelle, in seiner jeweils eigenen Nähe oder Distanz zu Gott. Ganz egal welche Religion du befragst: Unsere Glaubensweisen und Gottesbeziehungen sind so zahlreich und verschieden wie wir Menschen sind. Kermani beschreibt in diesem Buch einen modernen, weltoffenen, liberalen Islam, der die Besonderheiten anderer Religionen wertschätzen kann und zugleich Ähnlichkeiten entdeckt. Zur Vielfalt der Religionen sagt Kermani:

 

„Ich finde es nicht verkehrt, wenn die Menschen ihre eigene Religion für die bestmögliche halten. Gelte alles gleich…, lösten sich die Religionen auf in einem Einerlei. Das wäre nicht nur ein gewaltiger Verlust an Einblicken, Sichtweisen, Klängen, schließlich haben die Musik, die Malerei, die Poesie und auch die Philosophie ihren Ursprung in der jeweils eigenen Religion“ (84).

 

Die religiöse Vielfalt auf Erden ist auch nach meinem Verständnis ein Schatz und Ausdruck des Geistes Gottes, der eben nicht nur in einer Gestalt lebendig ist, sondern in unzähligen. Er weht, wo er will und wie er will, mal wie ein leises Säuseln, mal wie ein tosender Wind. Er äußert sich in vielen Kulturen, Sprachen und Völkern, wie es in der Apostelgeschichte so humorvoll beschrieben wird. Sind die Jünger etwa betrunken?, fragen die Pilger in Jerusalem. Wie kann es sein, dass sie so lebendig in verschiedenen Sprachen sprechen? Der Geist macht`s, sagt Paulus. Oder, um es mit unseren Worten zu sagen: Der Geist Gottes ist mehrsprachig, divers, superdivers.

 

Navid Kermani erzählt seiner Tochter, dass man Gott auch als Geist bezeichnen kann. „Jeder von uns, jedes Lebewesen trägt etwas Unendliches in sich“, sagt er. „Man könnte auch sagen, das wäre das Göttliche in uns“ (14). Er nennt es Geist oder Atem, Atem des Barmherzigen und erklärt seiner Tochter, dass sie ohne diesen Atem Gottes, Odem, spirit, pneuma nicht leben könnte – er ist das Grundprinzip des Lebens überhaupt. Davon erzählen die heiligen Schriften: „Gott hauchte dem Menschen von seinem Odem ein… er hauchte ihm sein Leben ein. `Geist` ist in diesem Sinne nicht nur etwas Spirituelles, Ungegenständliches, sondern gleichzeitig etwas physisch Wahrnehmbares, Spürbares, so wie die Luft. Und das Entscheidende ist“, sagt Kermani“, dass wir alle Teil dieses selben Einen sind, das so viele Möglichkeiten enthält. Schon wenn du einatmest, bist du verbunden mit der ganzen Welt. Jedes Mal, wenn du ausatmest, nimmt die Welt Anteil an dir“ (18,19).

 

Das finde ich wirklich inspirierend und so verständlich ausgedrückt. Auf diese Weise wird dem Geist das Abstrakte und irgendwie Unnahbare genommen – er ist unsichtbar und doch spürbar, in jedem Atemzug, in dem Atem, der uns gegeben wird ohne unser Zutun, der uns lebendig macht, aber auch verletzlich: die Atemnot der letzten beiden Jahre hat uns das auf bedrückende Weise gezeigt. Die Pandemie hat uns gelehrt, wie sehr wir alle aufeinander angewiesen sind – weil wir alle die eine, dieselbe Luft ein- und ausatmen. Sie wurde zum Symbol für das, was uns alle miteinander verbindet auch durch Masken hindurch.

 

Alle Menschen sind geistbegabt, in allen Menschen lebt der göttliche Geist. Er geht in uns ein und hat damit teil an der Vieldeutigkeit unseres Wollens und Wirkens. Denn wahrlich nicht alles, was der menschliche Geist hervorbringt, ist lebensdienlich. Darauf legt besonders Paulus Wert in seinem Brief an die Römer: Wenn er von der Sünde spricht, dann verweist er auf die Dimensionen des Lebens, die tödlich sind, die das Zusammenleben zwischen Menschen bedrohen, die Gemeinschaft zerstören. Der menschliche Geist richtet auf Erden furchtbaren Schaden an, tötet seine Mitgeschöpfe, zerstört seine eigene Lebensgrundlage, und nimmt sich, was ihm gefällt.

 

Ganz und gar anders wirkt der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, er macht lebendig, er erneuert, er richtet auf, er befreit von Sünde und Tod. Dieser Geist ist schon in euch, sagt Paulus, und ihr seid in ihm. Spürt ihr´s denn nicht? Für Paulus ist Pfingsten der Beginn eines anhaltend neuen Lebensgefühls, frei von Mächten, die den Menschen von sich selbst entfremden, die ihn von anderen entzweien, die ihn krank machen und einsam, bitter machen und böse. Das neue Lebensgefühl, das der Geist Jesu Christi in ihm weckt, ist lebensbejahend und lebenserneuernd.

 

Diesen Geist brauchen wir, liebe Gemeinde, hier und heute 2022. Dieser neue Geist muss her, weil es so nicht weitergehen kann. Weil wir neue Ideen brauchen. Weil wir andere Wege eingeschlagen werden müssen.

 

Komm, Heiliger Geist, kehr bei uns ein! Amen!

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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