„Wer bin ich?“
Liebe Gemeinde,
Wer bin ich? Diese Frage beschäftigt uns im Anschluss an das Gedicht von Dietrich Bonhoeffer in diesen Wochen. Wer bin ich und wenn ja wie viele?, so wendet der Philosoph Richard David Precht die Frage nach unserer Identität. Haben wir nur eine oder besitzen wir mehrere Identitäten? Ist Saša Stanišić Jugoslawe, Bosnier oder Serbe, Migrant oder deutscher Staatsbürger? Ist er Enkel, Sohn, Vater, Ehemann? Nachbar, Freund, HSV-Fan, Preisträger? Was macht ihn aus? Seine Herkunft oder seine Ankunft oder seine Zukunft?
Wie würden Sie auf die Frage nach Ihrer Identität antworten, liebe Gemeinde? Glauben Sie an einen festen Kern in sich, ein unverwechselbares, einzigartiges Wesen, ihr Ich, ihr Selbst? Oder ist es vielmehr so, dass sich unsere Identität zusammensetzt aus einer Fülle von Empfindungen, Gedanken und Erfahrungen? Und so wie sich die Welt um uns herum wandelt, wie sich die Orte und Beziehungen unseres Lebens verändern, so verändern wir uns auch. Vielleicht haben wir gewisse Identitäten nur auf Zeit? Kennen wir uns überhaupt? Weiß ich, wer ich wirklich bin? Wenn ich es nicht weiß, wer weiß es dann?
Im 139. Psalm heißt es dazu: Du kennst mich Gott, ich sitze oder stehe auf, so weißt du es. Du verstehst meine Gedanken von ferne... Es ist kein Wort auf meiner Zunge, dass du Gott nicht schon wüsstest. Oder bei Jesaja lesen wir den schönen, gern gewählten Taufvers: Gott spricht: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.
Tatsächlich gehört dieser Gedanke zu den elementarsten unseres Glaubens. Wir sind, weil Gott will, dass wir sind. Weil er uns in die Welt hineingerufen hat. Und so wie wir sind, sind wir Gottes geliebte Kinder, mit unseren besonderen Wesenszügen, Persönlichkeiten und Charakteren, einzigartig und unverwechselbar. Niemand gibt es auf Erden zweimal. Auch Zwillinge sind verschieden – das ist doch phänomenal. Nochmal zitiere ich 139. Psalm: Denn Du Gott hast meine Nieren bereitet und mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.
Wunderbar gemacht sind wir, und uns doch oft selbst ein Rätsel. Bin ich mir meiner selbst sicher? Bin ich wirklich die, für die andere mich halten? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Jede/r von uns kennt Situationen, in denen man unsicher ist, an sich selber zweifelt, Momente, in denen die Gefühle durcheinandergeraten und wir nicht wissen, was wir wirklich wollen. Momente, in denen Sie sich fragen: Wer bin ich wirklich? Wohin oder zu wem gehöre ich? Welchen Weg soll ich gehen?
Die Versuchungsgeschichte Jesu, die wir vorhin gehört haben, das Evangelium dieses ersten Sonntags in der Passionszeit, antwortet auch auf diese Frage. Vor seinem ersten öffentlichen Auftreten geht Jesus 40 Tage in die Wüste. Er sucht die Einsamkeit und die Kontemplation, er fastet, meditiert, betet. Wahrscheinlich will er Gott nah sein in diesen Wochen, ihn hören, verstehen, fragen: Wer bin ich? Bin ich dein Sohn? Bin ich derjenige, den du Gott erwählt hast, an dem du Wohlgefallen hast? Bin ich der Menschensohn, der aus deiner Liebe lebt und für diese Liebe leiden muss? Was bedeutet das für mich, für mein Leben?
In der Einsamkeit und Dunkelheit der Wüste vernimmt Jesus eine Stimme, die in zutiefst verunsichert: Matthäus nennt sie die Stimme des Teufels, des diabolos – dessen, der alles durcheinanderwirft. Drei Mal stellt dieser Jesus auf die Probe.Jesus soll zeigen, wer er ist und was er kann: Bist du Gottes Sohn, dann verwandle die Steine zu Brot. Bist du Gottes Sohn, dann spring von der Zinne des Tempels und lass dich von den Engeln auffangen. Und als letztes zeigt er ihm alle Reiche der Welt und spricht: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.
Jesus widersteht den Versuchungen, indem er sich an Gottes Wort hält, indem er sich an Gottes Wille orientiert: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht, so steht es im 5. Buch Mose. Es ist das Wort Gottes, das ihn bewahrt, das er verinnerlicht hat, das ihm ins Herz geschrieben ist, das ihn hält, trägt und leitet. Theologisch formuliert: Darin ist er der Sohn Gottes, dass er sich an Gottes Wort hält und mit ihm eins wird. Er ist Gottes Wort. So hat es die Kantorei eben gesungen: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit (Joh 1)
.Am Schluss der Wüstenerfahrung verlässt ihn der Teufel und die Engel treten herzu und dienen ihm. Jesus hat die erste schwere Prüfung seines Lebens bestanden, hat sich für den Moment geklärt, hat sich gefunden. Das schützt ihn nicht vor weiteren Fragen und Zweifeln, er bleibt verführbar und versuchbar. Denken Sie nur an die Gebetsszene in Gethsemane, wo er erneut an sich und seinem Auftrag zweifelt und Gott fragt, ob der Kelch des Leides nicht an ihm vorübergehen kann. Er geht seinen Weg als Sohn Gottes und ist Gott so nah, dass beide eins werden in seinem Wort, in seinem Wirken und Werden. In Jesu Wort kommt Gott zur Welt, geht den Weg bis ans Kreuz und in den Tod und durch ihn hindurch in ein neues Leben.
Kommen wir zurück zu uns, liebe Gemeinde. In der Traditionslinie Jesu verstehen auch wir uns als Kinder Gottes, als Töchter, als Söhne, als Menschen in Beziehungzu Gott. Als Gottes geliebte Kinder sind wir ganz wunderbar gemacht und doch unvollkommen, verwundbar, zerbrechlich, zart. (Aktuelles zu Angst vor Ansteckung und dem Coronavirus) Aber wir sind eben nicht nur unsere Angst oder Furcht, sondern zugleich viel mehr als die Summe unserer Empfindungen und Gedanken. Wir werden als Kinder Gottes durch ihn gehalten, begleitet, getröstet und versöhnt. Wir sind, was wir sind, nicht durch uns selbst, wir verdanken uns Gott und all der Menschen, die uns geprägt und gefördert haben. Wir sind, die wir sind auch durch unsere Großeltern, Eltern, Geschwister, Lehrer und Freunde. Wir sind unabhängig und frei, verlassen unsere Heimat oder werden aus ihr vertrieben, und bleiben doch verbunden mit den Orten und Familien, denen wir entstammen.
Saša Stanišić greift diesen Gedanken immer wieder auf, er zieht sich wie ein roter Faden durch sein Buch: „Bevor ich den Friedhof von Oskorusa sah, hatte ich mir aus Herkunft im Sinne familiärer Abstammung nichts gemacht. Meine Großeltern waren einfach da. Den einen Großvater gab es noch, den anderen nicht mehr. Der eine war ein freundlicher Angler, der andere zu Lebzeiten fantasievoller Kommunist...Dann aber las ich auf dem Friedhof von Oskorusa meinen Nachnamen auf jedem zweiten Grabstein und habe mir aus dem, was mit Herkunft zu tun hatte, aus meiner unbekannten Verwandtschaft und meinen bekannten Orten, gleich mal mehr gemacht. Aus dem was vergangen war in dem vermeintlich vertrauten Visegrad, und auch aus dem, was ich durch das anfänglich fremde Heidelberg gewonnen hatte“. Dieses Ineinander von Vergangenem und Gegenwärtigen, von Vertrautem und Fremden, von Kindheitserinnerungen und heutigen Erfahrungen, von eigener Wahrnehmung und der Zuschreibung von anderen – das gibt ihm zu denken, das bestimmt die Disparatheit seiner Existenz. „Herkunft sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben. Sie ist Zugehörigkeit, zu der man nichts beigesteuert hat“ (66): Er wollte anfangs in Deutschland weder Jugo noch Geflüchteter sein, er wollte nicht als Migrant identifiziert werden und es störte ihn, dass seine Sprache ihn verriet. Er musste all die Vorurteile ertragen, die ihm entgegengebracht wurden: „aggressiv und primitiv und illegal. Zwiebeln und Keime. Ausgewandert, um zu unterwandern“ (151). Kann jemand kein Deutsch und hat Mühe, sich verständlich zu machen, hielt man ihn für dumm (147).
Stanišić entwickelt seine eigene, widerständige und lebensbejahende Art mit diesen schambesetzten und diskriminierenden Erfahrungen umzugehen – er gibt sich z.B. lieber als Slowene aus, denn als Bosnier, denn da denken die Leute an Skifahrer, nicht an Kriegsopfer. Er lernt die deutsche Sprache und beherrscht sie besser als wir Muttersprachler, zitiert Gedichte von Joseph Eichendorf und schreibt selbst welche. Er verliebt sich, so erzählt er in „ein Mädchen mit rotem Haar, das ihm versucht hat beizubringen, das Verb stehe in deutschen Relativsätzen immer am Satzende, was er schon längst wusste, aber sie erklärte es so schön“ (vgl. I. Magold, Zeit-online).
Besonders originell geht es am Schluss dieses autobiografischen Romans zu: Das Ende soll man sich nämlich als Leserin oder Leser selber zusammenstellen. Da heißt es dann unter der Überschrift „Warnung! Du entscheidest, wie die Geschichte weitergehen soll, du erschaffst dein eigenes Abendteuer...Du bist ich. Du bist in das Altenheim zurückgekehrt, um deiner Großmutter gute Nacht zu sagen... Vielleicht aber auch, damit sie gar nicht erst schläft...“ (291) Und dann folgen verschiedene Varianten, wie diese Geschichte weitergehen bzw. zu Ende gehen kann. Stanišić wünscht dazu viel Glück!
Das wünsche ich Ihnen auch, liebe Gemeinde, denn er hat ja Recht, es gibt viele Möglichkeiten, wie die Geschichte unseres eigenen Lebens weitergehen kann. Wer wir wirklich sind, wer wir geworden sind, werden wir wohl erst an seinem Ende erfahren.
Mit Gottes Hilfe.
Amen.