Predigt am 7. August 2022 – 8. Sonntag nach Trinitatis

Pastorin Carolin Sauer

When day comes we step out of the shade,
aflame and unafraid,
The new dawn blooms as we free it
For there is always light,
if only we´re brave enough to see it
If only we´re brave enough to be it.
(The hill we climb – Gedicht von Amanda Gorman)

 

Wenn der Tag kommt, treten wir aus dem Schatten heraus,
entflammt und ohne Angst.
Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien.
Denn es gibt immer Licht,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.

 

Eine Durchsage scheppert durch die Lautsprecher auf dem Bahngleis. Lange hat er mit sich gehadert. Ob er wirklich in den Zug steigen soll, nach Hamburg fahren. Er ist sich immer noch nicht sicher. Eigentlich ist es doch ganz gut so wie es gerade ist … was sie nicht wissen, muss sie auch nicht aufregen. So verletzt er keinen: seine Eltern nicht, die doch so gerne eine nette Frau an seiner Seite wissen wollen, sein Großvater ganz zu schweigen. Im Schrank sein, so nennt man das. Wenn man noch nicht öffentlich erzählt hat, wie man sich verliebt, in wen man sich verliebt. Heterosexuelle Menschen sind qua Geburt nicht im Schrank. Alle anderen müssen die Türe öffnen, so die gesellschaftliche Regel. Aus dem Schrank rauskommen – übersetzt heißt das coming out. Er ist noch im Schrank.

 

Er schmunzelt: Warm ist es da ja schon. Und im Dunkeln kann sich auch niemand eine Meinung über ihn bilden: Skandal des Dorfes werden- eigentlich nicht sein Plan!

 

Angenehm mag es im Schrank schon sein, aber es ist eben auch eng und dunkel. In letzter Zeit fühlt sich das immer enger an. Nicht offen über den reden zu dürfen, den er vor einem Monat im Chat kennengelernt hat. Als ob er sich selbst und seinem Leben auf der Bremse stehen würde. Es gibt kein richtiges Leben im falschen und dieses fühlt sich immer falscher an. Heute will er es wagen, das erste Mal auf den Christopher-Street-Day fahren. Das erste Mal sichtbar sein. Ja klar, das ist alles weit weg von zuhause. Aber egal! Es geht da nicht um die da zuhause. Es geht um ihn!

 

„Es fährt ein, RE 8 nach Hamburg Hbf“… er schrickt auf. Langsam erhebt er sich. Steigt in den Zug, sucht sich ein Platz. Der Zug fährt los, er hört Rihanna: Shine bright like a diamond („leuchte hell wie ein Diamand“).

 

Kurz bevor der Zug ankommt, nimmt er die kleine Regenbogenfahne aus der Tasche, die er sich die Tage vorher online bestellt hat. Er klemmt sie mit der Schnalle an seinem Rucksack fest. Er ist nervös, steht auf und geht durch das Abteil. Da sieht er sie - Hanna, die von zwei Straßen weiter. Seine Mutter nennt sie mit ihrem bewundernden Ton: Die kluge Hanna. Zusammen sind sie in die Grundschule gegangen, dann ist er auf die Gesamtschule im Dorf und sie aufs Gymnasium in die nächst größere Stadt gewechselt. Panik steigt in ihm auf. Sie sieht ihn. Was sieht sie?

 

Er hat den Rucksack mit der Fahne auf dem Rücken. Doch Hanna nickt ihm fröhlich zu. Sie hat einen kleinen Regenbogen auf ihre Wange gezeichnet. Er geht einen Schritt auf sie zu. „Schön dich zu sehen“, sagt sie zu ihm. Er nickt und denkt dasselbe.

 

For there ist always light,
if only we´re brave enough to see it
If only we´re brave enough to be it.

 

Denn es gibt immer Licht,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.

 

Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein. Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das ist ein Heller. Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. Denn sie haben alle von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte. (Mk 12,41-44)

 

Er sieht sie. Die, die sonst nicht sichtbar ist: eine Witwe, arm noch dazu - ganz sicher nicht im Scheinwerferlicht der damaligen Zeit; unsichtbar in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Als ob es sie nicht gäbe. Vielleicht hat sie sich extra rausgeputzt, damit man ihre Armut nicht ansieht, an diesem Tag im Tempel.

 

Er sitzt da und sieht.

 

Sieht, wie sie ihren letzten Heller gibt. Ein bisschen verrückt ist das ja schon, finde ich.  Alles zu geben. Das Sicherheitsnetz einfach mal aus dem Blick zu lassen. Mutig? Verrückt? Leichtsinnig? Nenne man es wie man will.

 

Er, Jesus, er schüttelt nicht den Kopf. Er schüttelt nicht den Kopf, weil sie nicht vorsorgt, sondern ruft seine Freunde. Das alles, nicht um die Witwe vorzuführen, sondern um sie zu zeigen: in ihrer Autonomie.

 

Zwei Scherflein, die die Witwe von der Rhetorik trennen, die sie hier vielleicht auch kennen. Die selbst-herunterspielenden Sätze um das Wörtchen „zu“:


Ich bin doch zu unwichtig, um meinen Raum einzufordern …
zu ungebildet, um gehört zu werden …
zu arm, um Gebende zu sein …
zu durchschnittlich, um etwas zu bewegen…

 

zu dick, zu dünn, zu jung, zu alt, zu vernünftig und alle Adjektive, die einem noch so einfallen, um sich selbst unter den Scheffel zu stellen – ja, das, was leuchtet in jedem und jeder zuzuschütten.

 

Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind (Mt 5,15), so haben wir das im Evangelium vorher gehört. Sie, die Witwe, leuchtet!

 

Wenn man die Witwe fragen würde, warum sie das tut, würde sie vielleicht sagen: „Mein Geld, meine Entscheidung“.

 

Und ich finde die Würde, mit der sie das tut bemerkenswert. Die Freiheit, die sie sich nimmt, unglaublich.

 

Sie ist sich das wert.

 

Und Jesus sieht das.

 

Er sagt seinen Jünger:innen nicht: Tut es genauso, gebt alles. Noch lese ich eine Belehrung, sie als das Paradebeispiel der Gottesfürchtigen Frau zu deklarieren. Das einzige, was die Geschichte erzählt, ist das er sieht. Dass sie gesehen wird. Als die, die sie sein will.

 

Arm und doch Gebende. Mutig - eine Frau, die was wagt: in ihrer Armut, in ihrer Autonomie und das alles ohne Mitleid.

 

Das einzige „zu“, das hier und auch heute zählt, ist: Sie ist zu wichtig, um nicht gesehen zu werden. Wir sind zu wichtig, um nicht gesehen zu werden.


When day comes we ask ourselves,
where can we find light in this never-ending shade?

 

Wenn es Tag wird, fragen wir uns, wo wir Licht zu finden vermögen, in diesem niemals endenden Schatten?

 

So die ersten Sätze des Gedichts „The hilll we climb“, das die Schwarze Lyrikerin Amanda Gormann bei der Amtseinführung von Joe Biden vorträgt. Sie hat das Gedicht unter dem Eindruck des Sturms auf das Capitol geschrieben: die Bilder der Gewalt und des Fremdenhasses noch im Gedächtnis.

 

Doch sie steht da, auf der Bühne, am Tag der Amtseinführung, als Schwarze Dichterin mit ihrem Gedicht, dass die Vielfalt besingt; das ein Land besingt, in dem Menschen sein dürfen; gesehen sind und strahlen.

 

Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, das klingt am Ende ihres Gedichtes so:

 

„Denn es gibt immer Licht,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.“

 

For there ist always light,
if only we´re brave enough to see it
If only we´re brave enough to be it.

 

AMEN

 

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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