Predigt am 21. August 2022 – 10. Sonntag nach Trinitatis

Pastor i.R. Sebastian Borck

Liebe Gemeinde,

 

dem christlichen Glauben ist eine doppelte Erdung eigen. Nicht freihändig oder nach eigenem Gutdünken passiert Glauben, sondern erdverbunden. So wie Noah auf dem Erdboden sitzt, ruhend und versunken, innerlich auf das blickend, was alles war; und vor sich das weite Feld …

 

Handfest erdverbunden: noch ein anderes Symbol fällt mir ein: zum Hamburger Kirchentag 1981 zierte es das Plakat: ein schwerer Poller aus dem Hafen. Glauben ist nicht freischwebend, sondern heißt: sich festmachen, so wie die Fastmoker im Hafen die Schiffe vertäuen.

 

Zum christlichen Glauben (genauso wie zum jüdischen) gehört, dass man nicht alles in sich selber finden muss, sondern sich an anderen festmachen kann. Und die beiden Namen im Titel dieses Gottesdienstes stehen dafür: Abraham und Jesus. Sie stehen für zusammenhängende, aber durchaus verschiedene Traditionen, seinen Glauben zu befestigen:


I.
Mit Abrahams Aufbruch ins Ungewisse beginnt, was wir Geschichte Israels nennen: die Wege der Erzväter mit ihren Frauen und Söhnen und Konflikten, so wunderbar nachvollziehbar erzählt. Die Könige mit ihren zweifelhaften Erfolgen und ihrem schonungslos dargestellten Scheitern – ohne Rücksicht auf jegliche Heldenverehrbarkeit. Und dann die Profeten, großartige Mittler zwischen Gott und Volk, Fehlentwicklungen geißelnd, Unheil und Heil kündend. Kein Drama, das diesem Volk mit seinem Gott im Bunde – diesem Gott mit seinem erwählten Volk – fremd wäre. Eine Glaubensgeschichte ist das von einzigartiger Menschlichkeit.

 

Das Selbstbewusstsein, das in Moses’ Rede zum Ausdruck kommt, kann man schon gut verstehen:

 

Wo ist ein Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat?
Siehe, ich habe euch gelehrt Gebote und Rechte, dass ihr danach tun sollt in dem Lande, in das ihr kommen werdet. So haltet sie nun und tut sie. Denn darin zeigt sich den Völkern: Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leute sind das!
Wo ist ein so herrliches Volk, dem Götter so nahe sind
wie uns der Herr, unser Gott, sooft wir ihn anrufen?

 

Heute ist es üblich, auf verschiedene Länder und Religionen sozusagen von oben wie auf einen Globus zu sehen, als ob es an uns wäre, über den Religionen zu stehen, wie Gott zu sein und zwischen den verschiedenen Religionen zu richten und zu werten. Solche Perspektive von oben herab ist aber nicht die Perspektive des Glaubens, die selbstverständlich ausspricht, wovon sie überzeugt ist. Schließlich geht es im Glauben um einen letztgültigen Vertrauensanspruch, mit dem alles steht und fällt. Ein Alleinvertretungsanspruch, der über den Glauben anderer Herr sein wollte, braucht damit freilich nicht verbunden zu sein.

 

Gegen alles Relativieren möchte ich dazu ermutigen, sich über die Besonderheiten solch eines erdverbundenen Glaubens klarzuwerden und mit den eigenen Überzeugungen auch nicht hinterm Berg zu halten:

 

Ist es nicht grandios, für den eigenen Glauben aus solch einem Fundus biblischer Geschichten schöpfen zu können! Was für eine tiefe Menschenkenntnis, feine Psychologie, bewährter Erfahrungsschatz! Kein Wunder, dass aus Josef und seinen Brüdern bei Thomas Mann ein ganzer Roman werden konnte. Und später dann die Profeten Elia, Jesaja, Jeremia, Hosea – Berufene, die zum Vorbild werden, Inbild von Enthusiasmus und Verzweiflung zugleich. Es geht eben nicht nur immer um den lieben Gott. Endlich ein Glaube, dem es Ernst ist und wo es nicht immer heißt: Alles wird gut.

 

Wo gibt es das sonst schon: ein ganzes Buch mit Liedern, voller Jubel und voller Klagen zugleich. Wo sonst wird Gott das Kreuz der Wirklichkeit so vor die Füße geworfen! Parteilicher geht’s nicht. – Glauben? – Dennoch harre ich stets auf dich!

 

Das reicht für mehr als ein Leben. Abraham als Urvater eines Volkes, das immer wieder die Nähe Gottes erfahren und um sie gerungen hat – bis heute. Wo ist ein Volk, dem seine Glaubensvorstellungen so nahe sind wie uns der Herr, unser Gott, sooft wir ihn anrufen?


II.
Jesus hat dieses geschichts- und erdverbundene Vertrauen in neuer Weise lebendig werden lassen. Mit seinen Beispielen und Gleichnissen und Konfliktgeschichten ist er ganz im Horizont Israels geblieben. Aber er hat das Gottvertrauen revitalisiert und radikalisiert. So entschieden ist er für die Schwachen und Benachteiligten eingetreten und hat ihr Gottvertrauen zum Kriterium gemacht, dass sich daran die Geister schieden. Mit seiner Nähe über Tabu-Grenzen hinweg hat er Gottes Nähe in neuer Weise zur Geltung und Durchsetzung gebracht, ja in seiner Zuwendung und Vergebung die Zuwendung und Vergebung Gottes selbst beansprucht.

 

Wo ist ein Volk, dem seine Götter so nah sind
wie uns der Herr, unser Gott, sooft wir ihn anrufen und aus seiner Nähe leben?

 

Zur Geschichts- und Erdverbundenheit Jesu gehört, dass er sich und seine Verkündigung ganz und gar im Horizont des Judentums verstand, ihn aber auch gesprengt hat. Die Nächstenliebe hat er zur Feindesliebe zugespitzt, das Verbot der Ehescheidung zum Verbot außerehelichen Begehrens radikalisiert, durch Steigerung die Unerfüllbarkeit aufgezeigt und deutlich gemacht, dass keiner ohne Sünde ist und niemand vollkommen. Auf Vergebung ist jeder angewiesen.


So ist er dem Horizont Israels treu geblieben und hat ihn doch entgrenzt. Durch Tod und Auferweckung ist daraus der verkündigte Christus geworden, Zugang zum Glauben über Israel hinaus.

 

Jesus hat sich in der Tradition Abrahams verstanden. Aber das Gottvertrauen, das Jesus verkörpert, ist doch von anderer Art: Es bezieht ein und schafft Zugehörigkeit, es ermächtigt und macht frei, es ist durchlässig für Gott und so ganz bei den Menschen, aufmerksam, zart und genau.

 

Ich kenne keinen Menschen, der in seinem Gottvertrauen mehr in Menschen freizusetzen wusste. Oder mit Dorothee Sölle gesprochen: Jesus Christus ist die genaueste Interpretation des Menschseins, die ich kenne. Um Nachahmung geht es nicht. In der Nachfolge leben heißt, erwachsen, aufmerksam, geistesgegenwärtig werden.


III.
Sich an Abraham und an Jesus festzumachen, ist eine gute Entscheidung für das eigene Gottvertrauen. Sie lässt einen nicht in Prinzipien und Gedankengebäude abschwirren, sondern hält einen unterm Regenbogen. Sie ist zwar mit der Zumutung verbunden, mit einem bestimmten Volk, einer bestimmten Geschichte und mit einer bestimmten Person, fremd und nah zugleich, verbunden zu sein. Aber sie hält die Füße auf der Erde und eröffnet ein weites Feld voller Freiheit.

 

Das Wissen um die Vielfalt auf der Welt wie auch hierzulande sagt einem: man könnte auch anders. Was wäre, wenn ich woanders geboren, unter anderen Einflüssen aufgewachsen wäre? Das verunsichert. Aber es wäre falsch, darüber in einen allgemeinen Relativismus auszuweichen.

 

Es ist ein bisschen so wie heiraten: Liebe spüren und sich füreinander entscheiden. Ja, wir haben zusammengefunden und wollen unsere Wege teilen. Wir sind zusammen, wir werden je unsere Wege gehen, wir werden einander immer wieder suchen und wiederfinden – darauf, auf diesen Rhythmus, wollen wir vertrauen.

 

Das Vertrauen auf den Partner ist etwas anderes als das Vertrauen auf Gott. Aber dass Vertrauen etwas mit einer Entscheidung zu tun hat, mit der Entscheidung für einen bestimmten Weg auch, das ist dasselbe. Gott segne unsere Vertrauensentscheidung!

 

Amen.

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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