Predigt am 28. August 2022 – 11. Sonntag nach Trinitatis

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

„… den Demütigen gibt er Gnade“ (1. Petr. 5, 5)

 

Texte: Lukas 18, 9–14 und 2. Samuel 12, 1–10.13–15a
Mit der Mozart-Messe C „missa longa“ und der Verabschiedung von Johanna Veit

 



Liebe Gemeinde,

 

die Musik der Messe von Mozart erreicht mich tief in meiner Seele oder wie es in den Psalmen so schön heißt: Sie erhebt meine Seele zu Gott. Wunderbare Klänge, und ganz wunderbar aufgeführt … Mozart – eine Wohltat, ein Geschenk für uns heute an diesem Sonntagmorgen.

 

Wir feiern diesen Gottesdienst entlang der Stücke der Messe, denn sie strukturieren bis heute unsere Liturgie mit dem Kyrie und Gloria, dem Credo und den Lobpreisungen zur Feier des Abendmahls. Sie übersetzen unseren Glauben in Klänge und Melodien, in gesungene Bitten und Danksagungen. Mit ihnen nehmen Christen eine besondere Haltung ein: die eines Beters, eines Menschen, der sich im Gegenüber zu Gott wahrnimmt, der sein Leben als Geschenk und Gabe Gottes erfährt, der demütig wird vor seinem Gott, der ihm seine Freude und seinen Schmerz mitteilt, der daran glaubt, dass Gottes Kraft ihn umgibt, ihn hält und tröstet, auch wenn er das in schweren Zeiten nicht immer wahrnimmt und sich in seiner Angst einsam und verlassen fühlt.

 

Wenn wir Gott nicht spüren oder wahrnehmen, wenn wir uns einsam und verlassen fühlen, dann entfernen wir uns von Gott oder Gott entfernt sich scheinbar von uns. Dann setzt jene Entfremdung ein, die in der klassischen Theologie „Sünde“ genannt wird: Ich deute ich die Sünde in Anlehnung an den Theologen Paul Tillich nicht moralisch oder gesetzlich, sondern existentiell: sündig sein heißt: ich bin entfremdet von Gott, von anderen und von mir selbst – ich finde meine Mitte nicht mehr, meinen Halt, meine Zuversicht, ich verliere meinen Mut, meine Demut und meinen moralischen Kompass.


„Gott, sei mir Sünder gnädig“, bittet der Zöllner in dem Gleichnis, das wir eben hörten. Ich könnte auch übersetzen: Gott, erbarme dich meiner, sieh mich an, in meiner Not, meiner Einsamkeit, meinem Zweifel, meinen Fehlern und Irrtümern, meiner Schuld, meiner tiefen Verunsicherung und wende dich wieder zu mir mit Deiner Gnade und Güte. Der Zöllner ist demütig. Er rühmt sich nicht seiner guten Werke, er setzt andere nicht herab. Er bekennt, was er bekennen möchte und muss, und hofft auf Gottes Gnade.

 

Der Pharisäer ist der Gegentyp. Ja, er wird von den Evangelisten stereoptyp als Heuchler kritisiert: „Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner da. Ich fasste 2x die Woche und gebe den 10. von allem, was ich einnehme“ (Lk 18, 11f.). Dieses Gebet ist selbstgerecht, überheblich, verächtlich und hochmütig.

 

Intuitiv stellen wir uns an die Seite des Zöllners, doch faktisch belegt die Geschichte des Christentums und auch die Auslegungstradition dieses Gleichnisses, dass sich Christen genauso über andere erhoben haben, wie dieser Pharisäer über den Zöllner, liebe Gemeinde. Verächtlich und entwürdigend wurde über die jüdischen Pharisäer und Schriftgelehrten geurteilt. Noch bedrückender sind die Beispiele christlicher Anmaßung und Überheblichkeit, wenn man historisch auf die Beziehung von Christen und Juden schaut – sie reichen bis hin zum Antijudaismus und zum Antisemitismus dieser Tage.

 

Mit vermeintlicher Demut haben sich Christen über andere Religionen erhoben und den christlichen Glauben zum einzig wahren erklärt. Da braucht es schon eine Stimme wie die des weisen Propheten Nathan, die in aller Deutlichkeit sagt: Du bist der Mann! Du bist die Frau! Du bist der- oder diejenige, die hochmütig und selbstgerecht gehandelt hat!


Dies ist der zweite große Text an diesem Sonntag, liebe Gemeinde, und auch er ist brisant und denkwürdig. Kaum hatte Nathan das Gleichnis von dem Armen und Reichen erzählt, steht für David fest: Der reiche Mann, der dem armen sein liebstes, sein einziges Schaf weggenommen hat, hat Unrecht begangen und gehört bestraft! Zornig ruft er: Dieser Reiche hat die Todesstrafe verdient!

 

Du bist der Mann!, antwortet Nathan. Gott hat dir alles gegeben: Er hat dich zum König über Israel gesalbt, er hat dich aus der Hand Sauls errettet, dir einen Palast und viele Frauen gegeben. Warum hast Du Gottes Wort und Tat verachtet? Warum hast Du Dir Batseba zur Frau genommen und ihren Mann Uria in den sicheren Tod geschickt? Du hast Unrecht begangen, Schuld auf dich geladen und dich versündigt an Uria, Batseba und an mir (2. Sam. 12, 7ff).

 

Das Todesurteil, das David über den Mann ausspricht, der dem Armen sein einziges Schaf genommen hat, das hat er über sich selbst gesprochen. Aber weil David seine Sünde einsieht, bekennt und bereut, muss er nicht sterben. Den Demütigen gibt Gott Gnade. Gott nimmt seine Sünde weg, heißt es da.

 

Einen guten Ausgang nimmt diese Geschichte aber dennoch nicht. Denn das Kind, das Batseba gebären wird, muss sterben. Das ist grausam und sehr bitter – und ist die Bibel hier wieder sehr ehrlich. Denn bitter ist das Leben manchmal auch. Insbesondere dann, wenn wir merken, dass wir zwar für ein Fehlverhalten um Vergebung bitten können, aber die Folgen unseres Fehlers nicht mehr ändern oder aufheben können. Der missratene Einsatz in und Abzug aus Afghanistan, an den in den letzten Wochen erinnert wurde, könnte dafür ebenso beispielhaft stehen wie der menschengemachte Klimawandel mit seinen fatalen Folgen für nachfolgende Generationen. Es gibt Fehler, die man nicht wieder gut machen kann, individuelle, persönliche und auch gesellschaftliche. Denken Sie nur daran, wie selbstgerecht, selbstherrlich und hochmütig wir Besitz ergriffen haben von dem Land indigener Völker und von den Bodenschätzen und Kulturgütern des globalen Südens. Ich war in dieser Woche mit Pastorinnen und Pastoren auf der Documenta in Kassel und bin noch immer beeindruckt, aber auch betroffen von den Bildern und Kunstwerken des Protestes gegen Armut und Gewalt. Jetzt erst beginnen die Debatten um die Folgen von Kolonialismus und Imperialismus, und die Frage, wer trägt die Schuld? Gibt es einen Weg heraus? Schaffen wir eine Umkehr? Trauen wir uns Reue zu? Bitten wir andere um Vergebung? So wie der Papst in Kanada. Bitten wir Gott um Gnade?

 

Wir merken, ein Schuld-Bekenntnis fällt niemandem leicht. Es soll ja auch kein Lippenbekenntnis sein. Auch von „unseren Sünden“ sprechen wir selten - der Begriff ist in der kirchlichen Tradition nämlich zu oft missbraucht worden. Die Kirchen haben ihn benutzt um ihre Gläubigen klein zu halten, zu beschämen, zu demütigen. Ich verwende ihn schon, aber sehr bewusst nicht ohne zugleich von Gottes Gnade zu sprechen, von seiner Güte, seiner Menschenliebe und seiner versöhnenden Kraft. Gottes Gnade wendet unsere Scham und Scheu. Sie ermutigt und befreit zu einem ehrlichen Blick auf uns und diese Welt, und sie befreit von einer Seelenlast. Sie nimmt die Sünde weg, das heißt, was wir angerichtet haben, wird uns nicht mehr angerechnet, muss uns nicht erdrücken, nicht lähmen und beschämen. Die Last einer Sünde liegt ganz in Gottes Hand, er nimmt sie zu sich, damit wir frei werden für eine andere, eine bessere Zukunft.

 

Die Devise dieser Zukunft könnte lauten: „Mehr Demut“, liebe Gemeinde. Gegenüber der Schöpfung, gegenüber Menschen, die mit uns oder für uns arbeiten, gegenüber Menschen in Not und auf der Flucht übers Mittelmeer, gegenüber unseren eigenen Ansprüchen auf Wohlstand, Wachstum und Macht, und letztendlich gegenüber Gott. Es geht mir nicht darum, dass wir uns klein machen, um falsche Bescheidenheit, um Unterwerfung oder Selbsterniedrigung. „Mehr Demut“ verstehe ich eher so wie der Prophet Micha es benennt: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott (Mi 6.8).

 

Deswegen diese Messe, deswegen dieses gesungene Gebet. Möge es auch Ihnen guttun, liebe Gemeinde, und dabei helfen, sich vor Gott wahrzunehmen, suchend, bittend, klagend oder auch dankend und lachend, ihn als ihr Gegenüber zu erfahren, und in die Wellenbewegung dieses Hin und Her einzutauchen, das unser ganzes Leben durchzieht, zu bekennen, was uns belastet und davon frei gesprochen zu werden, für ein Leben und Hoffen zwischen den beiden Polen Kyrie und Gloria, Sünde und Gnade, Demut und Ermutigung. Dazu geleite uns Gott!

 

Amen!

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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