Predigt am 9. Oktober 2022 – 17. Sonntag nach Trinitatis

Pastorin Carolin Sauer

„Leuchte!“ (Jesaja 49, 1–6)

 

Wie wenig nütze ich bin (von Hilde Domin)

 

Wie wenig nütze ich bin,
ich hebe den Finger und hinterlasse
nicht den kleinsten Strich
in der Luft.

 

Die Zeit verwischt mein Gesicht,
sie hat schon begonnen.
Hinter meinen Schritten im Staub
wäscht Regen die Straße blank
wie eine Hausfrau.

 

Ich war hier.
Ich gehe vorüber
ohne Spur.
Die Ulmen am Weg winken mir zu wie ich komme,
grün blau goldener Gruß,
und vergessen mich,
eh ich vorbei bin.

 

Ich gehe vorüber ohne Spur?
Für die Ulmen vielleicht. Aber auch für die, die mir lieb und teuer sind? Für die, die mich kenne, mit denen ich Wege gegangen bin? Was sollen sie von mir sagen? Was soll von mir bleiben?
Vielleicht: Sie war eine Teamplayerin, er ein Mutmacher, einer voller Liebe, sie hatte Witz und Humor, oder doch, er war sich selbst zu sehr genug, hat ganz schön viel vermasselt. Er oder sie war: lustig, klug, eloquent, jähzornig, interessant, etwas ganz Besonderes.
Was, ja was sollen sie von mir sagen – die Lieben, die vielen Wegbegleitenden?
Reicht das, was ich war, wird es gut genug sein? Für mich, für die, die mir lieb und teuer sind? Für Gott?

 

Ich will! Ich will mehr! So spricht Gott im heutigen Predigttext: Im zweiten Gottesknechtslied. Wir hören den Text:

 

Hört mir zu, ihr Bewohner der Inseln! Gebt acht, ihr Völker in der Ferne! Der Herr hat mich in seinen Dienst gerufen, als ich noch im Mutterleib war. Schon im Schoß meiner Mutter hat er mir meinen Namen gegeben. Er hat mir Worte in den Mund gelegt, so scharf wie ein Schwert. Versteckt in seiner Hand, hat er mich bereitgehalten. Wie einen spitzen Pfeil hat er mich in seinem Köcher aufbewahrt.
Er sagte zu mir: »Du bist mein Knecht. Du trägst den Namen ›Israel‹. Durch dich will ich zeigen, wie herrlich ich bin.« Ich aber sagte: »Ich habe mich vergeblich bemüht, für nichts und wieder nichts meine Kraft vertan. Doch der Herr verhilft mir zu meinem Recht, mein Gott wird mich belohnen.« Ja, der Herr hat mich schon im Mutterleib zu seinem Knecht gemacht. Ich sollte Jakob zu ihm zurückführen und ganz Israel bei ihm versammeln. So wichtig war ich in seinen Augen, mein Gott gab mir die Kraft dazu. Und jetzt sagt er: »Ja, du bist mein Knecht. Du sollst die Stämme Jakobs wieder zusammenbringen und die Überlebenden Israels zurückführen. Aber das ist mir zu wenig: Ich mache dich auch zu einem Licht für die Völker. Bis ans Ende der Erde reicht meine Rettung.«
(Jes 49, 1–6)

 

Was für ein Anspruch! Ich bin ganz sicher nicht dieser Gottesknecht. Ich alleine Licht für die Völker sein, so universal bis an die Enden der Erde… das ist eine große Nummer. Für mich eine Nummer zu groß!

 

Aber wer ist dieser Gottesknecht?
Wer ist es, der in Gottes Namen Licht auf die Erde bringt? Gottes Willen zeigt, Wärme, Verständigung und Frieden? Wer ist es, der oder die auf den Zweifel und die Erfahrung des Versagens noch einmal einen Auftrag dazu bekommt: Auf das vergebliche Bemühen, noch den Auftrag aufgehalst bekommt, Licht für die Völker zu sein?
Ist es ein Auserwählter, eine Prophetin?
Eine Sehnsuchtsfigur ist es ganz sicher! Zumindest für die Adressat:innen, für die der Text bestimmt war: für das jüdische Volk im Exil in Babylon. Sie sind die Hörer:innenschaft. Sie leben im Exil wo alles anders war, in der Fremde.
Ein Hoffnungstext für sie: endlich Licht!
Einer erwählt, nicht von allen, nicht vor allen. Sondern erwählt für alle!
Aber ist es einer?
Manche Theolog:innen sehen hinter diesem Gottesknecht auch Israel, das ganze Volk stehen: ein Kollektiv, nicht ein Einzelner. Der Gottesknecht als Kollektiv, dann klingt der Text nochmal ganz anders!
Modern gesprochen vielleicht so:
Ich will, dass ihr da seid, euer Leben lebt, für alle.
Natürlich sollt ihr auch für euch leben und für die, die euch am Herzen liegen.
Aber auch für die Welt.
Ihr, ein Kollektiv, für alle.
Ihr seid mein Licht.
Das Wärme ausstrahlt. Und Frieden.
Gegen die Kälte. Gegen Ungerechtigkeit. Gegen Krieg.
Ihr könnt das.
Mit eurem Leben, an euren Orten, auf eurem Weg.

 

Ja, ihr, ihr seid mein Knecht, ihr sollt für alle scheinen!

 

Ich merke, mir liegt die kollektive Deutung näher. Und vielleicht ist zugleich und gerade die Unklarheit des benannten Gottesknechts der Schatz des Textes. Gemeint sind die vielen und im Kleinen auch jede und jeder Einzelne. Gemeinsam mit der Welt. Licht sein.
Da klingt der Text schon gar nicht mehr so nach großer Allmachtsphantasie des einen über die vielen. Und der Text selbst setzt den einzelnen Leuchtenden in den göttlichen Kontext, so gar nicht narzisstisch-selbstbezogen:
Darum bin ich von Gott wertgeachtet und mein Gott ist meine Stärke.
Gott ist es, der dir und den vielen, jedem und euch gemeinsam etwas zutraut, sodass ihr zusammen scheint.
Und noch ein weiteres des Textes finde ich besonders kostbar. Den Anfang. Das Gottesknechtslied beginnt mit zwei Worten: Hört zu. Der Text nimmt mich hinein als Angesprochene, Licht zu sein, aber auch als die, die nach dem Licht sucht. Hör auf das göttliche Vertrauen in dich und zugleich: Hör auf die Kollektive, die Licht sind für die Welt!

 

Und ich, ich höre sie. Mit Ehrfurcht. Mit Trauer um die Finsternis, in der sie Licht sind. Höre sie, sehe ihre Bilder, die es an der Medienzensur vorbei schaffen: Die Bilder der Frauen im Iran, die zurzeit auf die Straßen gehen. Ohne Kopftuch. Die sich ihre Haare abschneiden, als Zeichen, dass nur sie über ihren Körper bestimmen können. Dass sie Freiheit wollen.
Mit Ehrfurcht denke ich an diese mutigen Frauen.
Sie scheinen. Für alle Frauen, die nicht frei sind. Jede einzelne, die auf die Straße geht und darum weiß, dass sie Leib und Leben riskiert. Gemeinsam für alle!

 

Sie scheinen hell. Und ich?

 

Wie wenig nütze ich bin,
ich hebe den Finger und hinterlasse
nicht den kleinsten Strich
in der Luft.

 

Die Zeit verwischt mein Gesicht,
sie hat schon begonnen.
Hinter meinen Schritten im Staub
wäscht Regen die Straße blank
wie eine Hausfrau.

 

Ich war hier.
Ich gehe vorüber
ohne Spur.
Die Ulmen am Weg winken mir zu wie ich komme,
grün blau goldener Gruß,
und vergessen mich,
eh ich vorbei bin.

 

Ich gehe vorüber –
Aber ich lasse vielleicht
Den kleinen Ton meiner Stimme,
mein Lachen und meine Tränen
und auch den Gruß der Bäume im Abend
auf einem Stückchen Papier

 

Und im Vorübergehen,
ganz absichtslos,
zünde ich die eine oder andere
Laterne an
In den Herzen am Wegrand.
(Hilde Domin)

 

Ich bin es nicht alleine. Die Gottesknechtin.
Vielleicht sind wir es alle gemeinsam.
Sind besonders.
Geliebt und auserwählt.
Von Mutterleibe an;
Wie eine Lichtspur im Herzen von Gott, der mich erforscht und kennt: Du bist meine Knechtin.
Und Gott sagt:
Steh auf! Nimm dein Licht und geh! Leuchte! Und es beginnt.
AMEN

 


Download Predigt (PDF)

 

 

Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
Besucherinformationen