Predigt am 24. Dezember 2022 – Heiligabend

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann


Liebe Gemeinde!


Was gibt ihnen Hoffnung, was lässt sie hoffen? Fällt ihnen etwas ein? Was kommt ihnen in den Sinn? Ich fand es bemerkenswert, dass ich dieses Jahr erstmal etwas länger überlegen musste, bevor ich eine überzeugende Antwort fand. Dieses Jahr hat so viel Hoffnungsvolles zerstört, die Hoffnungen vieler Menschen in den Wind geschlagen und Hoffnungslosigkeit unter uns verbreitet. Mit den Worten des alten Propheten Jesaja, den wir eben hörten: dieses Jahr hat ein Joch auf unsere Schulter gelegt, Stiefel mit Gedröhn haben Menschen Gewalt angetan, und Mäntel durch Blut gestreift (Jesaja 9,3f.).


Ich habe in der vergangenen Woche Menschen gefragt, was ihnen Hoffnung gegeben hat und gibt, und es war total interessant zu hören, was sie nach einem Moment des Nachdenkens antworteten: der Zusammenhalt in der Familie, Kinder sagten: ohne Maske mit Freunden zusammenkommen, Erwachsene nannten das Lachen der Kinder, die Liebe. Jemand sagte: Hoffnung gibt mir, wenn ich etwas tun kann: Flüchtlingen helfen, Spenden sammeln, ins Handeln kommen.


Beeindruckt hat mich kürzlich auch die 73jährige jüdische Historikerin Irina Scherbakova. Sie ist Mitbegründerin der mittlerweile verbotenen russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. In ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Marion-Dönhoff-Preises in Hamburg sprach sie angesichts der gegenwärtigen Weltlage von einer „Verlockung der Hoffnungslosigkeit“: Genau das habe ich in diesem krisenreichen Jahr oft empfunden, eine Verlockung der Hoffnungslosigkeit, verbunden mit Gefühlen der Ohnmacht und der Furcht vor dem, was noch alles kommen könnte. Doch „wo Hoffnung verschwindet, nimmt bald Verbitterung und Ohnmacht ihren Platz ein“, sagt Scherbakova (Zeit, Nr. 51). Wie trutzig und widerständig die Hoffnung sein kann, das haben ihr vor vielen Jahren Frauen gezeigt, die in russischen Lagern gefangen gehalten wurden und 25 Jahre Strafe vor sich hatten: Auf ihre Frage, wie sie das ausgehalten haben, antworteten sie: „Ich habe gehofft“. Worauf denn? „Ich habe einfach nur gehofft“. Was für eine unbändige und unerschöpfliche Macht da in uns allen liegt, allen Realitäten zum Trotz zu hoffen, gegen die Erfahrung von Unterdrückung und Entmenschlichung hoffend aufzubegehren, aufzustehen und zu widerstehen. Hoffnung findet sich nicht ab mit dem Vorhandenen, will die Welt verändern, drängt zur Tat. Wurde darum auch Gott tätig und schickt uns seinen Sohn?


Die Geburt von Jesus Christus hat viele Bedeutungen – und jedes Jahr überlegen wir in der Kirche neu, was es mit diesem Kind auf sich hat, dass Menschen zur Feier seines Geburtstags in Kirchen und vor Christbäumen zusammenkommen und Weihnachten feiern. Dieses Jahr stärkt es meine Hoffnung.


Da liegt ein kleiner Säugling, ein Neugeborenes, und zugleich ein Hoffnungsträger, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat – die Hirten staunen, die Engel jubeln, sogar von den Tieren im Stall berichten die Legenden, dass sie ganz und gar andächtig, ja selig auf die Krippe schauen. Sehnsüchtig wurde er erwartet von seinen jüdischen Vorfahren, der Messias, ein Wunder-Rat und Friede-Fürst sollte kommen. Doch er kam nicht als Held, als König, als Machtmensch – sondern als kleines Kind, armselig und schutzbedürftig. Maria und Joseph ebenso wie die Hirten auf dem Felde, alle die diesem Kind begegnen, sehen in ihm mehr als das, mehr vor ihren Augen liegt: einen Friedenboten, einen Hoffnungsbringer, ein Gotteskind. Hoffen bedeutet, ausgerichtet sein auf etwas, das man noch nicht sieht (Röm 8,24), das noch aussteht. Noch ist kein Friede, noch ist keine Gerechtigkeit, noch seufzt die Schöpfung, noch leidet die Natur, aber so wird es nicht bleiben. Noch ist so ein kleiner Säugling ganz und gar auf unsere Fürsorge und Liebe angewiesen, alle Mütter und Väter, Geschwister, Patinnen und Paten kennen das aus eigener Erfahrung. Und doch liegt so viel Potential, so viel Verheißung, so viel Liebe in diesem anfänglichen Leben.


Auch ich hoffe auf eine Zukunft, die in der Wirklichkeit noch nicht zu sehen ist, die ich aber mit meinen Träumen, in meiner Phantasie und meinem Glauben sehr wohl vor Augen habe und die das Leben auf Erden erst sinnvoll macht: Da werden sich Feinde nach Friedenverhandlungen die Hände reichen, das werden Arme und Hungrige nicht mehr vor Tafeln Schlange stehen, sondern zu Tisch sitzen, da werden Kinder geboren, geliebt und geachtet. Der Grund meiner Hoffnung liegt in dem Vertrauen, dass Gott zur Welt gekommen ist, dass er jeden Tag neu zu uns kommt und so den Hoffnungsfunken in uns lebendig hält. In diesem Kind in der Krippe liegt all das verborgen, was Gott uns für ein gutes Leben geben will: Glaube, Liebe und Hoffnung.


„Wir müssen vor Hoffnung verrückt sein“, so beginnt ein Lied Wolf Biermanns, das er 1982 zur Geburt seiner Tochter Marie dichtete und komponierte. Darin kontrastiert er die äußerliche Bedrohung der Erde mit der wundervollen Erfahrung einer Geburt. Ein Kind auf die Welt zu bringen sei eigentlich vermessen, so sagen es auch heute wieder junge Leute angesichts der Klimakrise und der Überbevölkerung. Aber Einspruch: Weihnachten ist der beste Beweis dafür, dass wir genau diese Vermessenheit, diese Verrücktheit brauchen: Wir kommen zusammen, weil wir die Geburt eines Kindes zu feiern. Jedes Kind, das in diese Welt hinein geboren wird, ist ein Garant dafür, dass Hoffnung bleibt.


Sind wir also alle ein wenig verrückt! Nicht nur, weil wir gegen alle Evidenz hoffen, dass das Leben weitergehen oder sogar besser werden kann. Sondern weil wir die Zukunft so mit anderen Augen sehen können, eben ver-rückt, aus der Perspektive dieses neugeborenen Kindes, aus der Perspektive Gottes, der doch wohl auch im positiven Sinn verrückt gewesen sein muss, als er sich entschied als Kind zu uns auf die Welt zu kommen.


Am Schluss halte ich es wie I. Kant, der einmal sagte: Der Himmel hat dem Menschen als Gegengewicht zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens drei Dinge gegeben: Die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen.


Von der Hoffnung habe ich Ihnen viel erzählt. Wer darüber eingeschlafen ist, auch gut. Ohne ein Lachen oder zumindest ein Lächeln sollen Sie heute aber auch nicht nach Hause gehen. Dazu müssen Sie in diesem Jahr aber etwas tun, mitmachen und wenn Sie können, aufstehen. Wenden Sie sich zu ihrem Nachbarn, legen die rechte Hand auf Ihr Herz und sagen zu ihm oder ihr: Friede sei mit dir! Lächelt sie, lächelt er? Dann sprechen sie diesen Friedengruß von Jesus auch ihrem Nachbarn auf der anderen Seite zu, und wenn sie wollen vor und hinter ihnen, auf dass die Friedenshoffnung groß werde auf Erden. Amen.

 


Download Predigt (PDF)

 

 

Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
Besucherinformationen