Predigt am 26. Dezember 2022 – 2. Weihnachtstag

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

zum Choral von Johann Sebastian Bach „Gelobet seist du Jesu Christ“

 


 

Liebe Gemeinde!

 

Das alles hat er uns getan, das alles ist für uns geschehen – für dich und mich, für sie und ihn. Darüber freue sich die Christenheit und dank ihm das in Ewigkeit.

 

Freude und Staunen sprechen aus dieser wunderschönen Kantate von Johann Sebastian Bach, aus Worten und Tönen. Freude über den Glanz der höchsten Herrlichkeit, über das ewige Licht, das uns erscheint – und zugleich ein großes Staunen darüber, dass dieser Gott, den keine Welt und kein Himmel fassen kann, in einer engen Krippe vor uns liegt und unser Herz anrührt. Das hat er alles uns getan. Freude und Staunen über das Wunder von Weihnachten.

 

Alle Jahre wieder sind wir fasziniert, berührt, bewegt von dieser Erzählung und sie löst einen einzigartigen Mix an Gefühlen in uns aus. Wenn alles leuchtet und alle strahlen, wird mir auch immer ein wenig melancholisch um Herz, ich werde sentimental, und es gibt neben den Momenten des Glücks und des Lachens die Momente tiefer Traurigkeit. Niemals sonst im Jahr liegt beides so nah beieinander, der Jubel des „Oh du Fröhliche“ und der Schmerz eines bedürftigen und zerbrechlichen Lebens.

 

Kennen Sie das auch, liebe Gemeinde? Diese zwei Seiten des emotionalsten aller Familienfeste? Die Ambivalenzen des Weihnachtsfestes? Man freut sich, die Kinder und Enkel wieder zu sehen, und wie sie strahlen können in den jungen Jahren. Man freut sich, in seine Heimatstadt zurück zu kommen und alte Freundinnen und Freunde wieder zu treffen – gespannt auf das, was sie im letzten Jahr erlebt haben. Man freut sich, die Großeltern zu besuchen, alte Geschichten und Fotos auszutauschen.

 

Aber immer ist da auch die andere Seite: Einsamkeit, Schmerz, Traurigkeit, weil Menschen gestorben sind, die immer mitgefeiert haben, die zu uns gehören, aber jetzt fehlen. Weil alter Streit ausbricht und Spannungen nicht ausbleiben, wenn die Familie zusammenkommt. Weil wir ernüchtert und enttäuscht feststellen müssen, dass in getrenntlebenden Familien wieder kein friedliches Zusammenfeiern möglich war.

 

Kürzlich habe ich gelesen, dass bei uns in Deutschland immer mehr Menschen vor dem Weihnachtsfest fliehen, ins ferne Ausland fliegen und damit nicht nur die alten häuslichen Traditionen, sondern auch die christlichen Rituale hinter sich lassen.
Da geht etwas verloren, was Menschen über Jahrhunderte getröstet und geholfen hat: Ein Glaube, der sich nicht auf das Diesseits beschränkt, sondern mit Gottes Realität und Wirken auf Erden rechnet. Ein Glaube, der über alles Endliche und Irdische hinaus einen Himmel voller Engel für möglich hält. Ein Glaube, der die Liebe zum höchsten Gut erklärt, Liebe, die uns zu Menschen macht, die zu empfinden nicht unser Werk ist, sondern Gottes Geschenk an uns. Weihnachten wird daher zu Recht das Fest der Liebe genannt. Martin Luther und Johann Sebastian Bach haben diesen Glauben auf einzigartige Weise vertont.

 

Die heutige Kantate basiert auf einem Lied, das Martin Luther 1524 komponiert hat. Er wiederum bedient sich dabei eines hundert Jahre älteren Liedgutes aus einem Kloster. Es gehört zu den sogenannten „Leisen“, das sind mittelalterliche, vierzeilige geistliche Gesänge für die Gemeinde, die mit einem Kyrieleis enden – daher „Leisen“. Er überträgt die Botschaft von der Menschwerdung Gottes in ein schlichtes und verständliches Volkslied. Tatsächlich verbreitete sich seine Theologie damals stark über das gemeinsame Singen seiner Lieder. 200 Jahre später hat Johann Sebastian Bach Luthers Choral großenteils übernommen und zaubert er durch seine Instrumentalisierung mit Oboen, Violinen, Hörnern und Pauken u.a. eine Klangfarbe herbei, die bis heute fasziniert:

 

Zum Beispiel im Eingangschor, wo man den Flügelschlag der Engel hören kann. Die Freude der Engel über die Geburt Christi wird durch vier konzertierende Chöre ausgedrückt: die Singstimmen, die Hörner, die Oboen und die Streicher.
Im 2. Stück verwebt Bach den Lutherchoral mit einem Rezitativ und fügt so mit Hilfe des Libretto-Dichters dem Ursprungstext kleine Ideen, man könnte auch sagen kleine Predigtnotizen hinzu: Worte wie der Glanz der höchsten Herrlichkeit, das Ebenbild von Gottes Wesen, das ewige Licht ergänzen und unterstreichen das Bild der Ewigkeit Gottes und verstärken so den paradoxen Gedanken dieses weihnachtlichen Geschehens: dass ein Ewiger in dieser Krippe zeitlich wird, übersteigt unsere Vernunft, das widerspricht unserer Logik, das ist nicht zu verstehen, das kann eigentlich nicht sein: Gott ist Gott und der Mensch ist Mensch. Gott ist ewig, transzendent, allmächtig und unfassbar. Der Mensch ist sterblich, irdisch, letztlich ohnmächtig und anfassbar.  

 

In der Arie für Tenor im 3. Satz fasst der unbekannte Dichter die Strophen 3 + 4 des Luther-Liedes zusammen: Gott, dem der Erden Kreis zu klein, den weder Welt noch Himmel fassen, will in der engen Krippe sein. Die drei Oboen spielen und spiegeln dabei die Weite des Himmels im Übergang von Moll zu Dur.

 

Warum aber kommt der ewige Schöpfergott als Gast auf diese ihm zu enge Welt? Warum wird er Mensch? Warum ein Kind? Warum in Armut? Luther dichtet: weil er uns aus dem Jammertal führen will. Jammertal, ein Wort, das mir im Blick auf das vergangene Jahr ziemlich treffend erscheint. Wir hatten und haben in 2022 viel zu beklagen, zu betrauern, zu seufzen, zu ertragen, auszuhalten. Ich muss hier gar nicht konkret werden, sondern wir alle haben vor Augen, was diese Welt und unsere Menschheit bedroht und uns in Atem hält bzw. den Atem nimmt, im Großen wie im Kleinen, global und ganz privat.

 

Das irdische Jammertal gewinnt durch die göttliche Liebe hier auf Eden eine neue Bedeutung, es wird durch sie überwunden und verwandelt. Die Liebe verändert diese Welt und uns selbst. Der Dichter ergänzt den Luthertext mit dem Vers: Gott will dein Herz durch diese Liebe rühren, mach dich bereit, ihn zu empfangen. Die göttliche Liebe, die Jesu Worten und Taten, Leben und Sterben sichtbar wird, tröstet, trägt, ermutigt und lenkt Christinnen und Christen bis heute – ohne diese Liebe könnte ich nicht sein.

 

Ich habe sie erfahren in der Begleitung und Unterstützung durch Menschen, die mir zu Seite standen im vergangenen Jahr. Ich habe sie entdeckt in der immensen Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge aus der Ukraine und in der Hilfe für die Menschen in der Ukraine. Ich habe sie gesehen in den Tränen für die Queen, in den Unterstützer-Briefen, die ai hier im GD für die mutigen, für Freiheit kämpfenden Frauen im Iran verteilten, in den Anstrengungen, unsere Kinder vor sexualisierte Gewalt zu schützen, wie auch in den Taufen der Kleinkinder, den Umarmungen der Hochzeitspaare und den Tröstungen für die Verstorbenen. Sie werden diesen Beispielen unzählige eigene Erinnerungen hinzufügen, liebe Gemeinde. Momente der Dankbarkeit, waren sie auch noch so zart.

 

Um es noch mit Worten der Kantate zu sagen: Die Liebe verwandelt unser Jammertal in Jubel, unsere Armut in Überfluss, unsere Enge in Herzensweite. Die zwei Seiten unseres Lebens, der Jubel über das Wunder der Liebe und der Schmerz über ihr Ausbleiben oder Scheitern – beides können wir in der Krippe entdecken.

 

Das 5. Stück, ein Duett aus Sopran und Alt, und zwei Violinen wiederholt das kontrastierende Element: die Armut, die Gott auf sich nimmt wird durch eine Dissonanz der beiden Stimmen hergestellt. Ihr gegenüber steht der Chor der Engel, dem wir durch Christus gleichwerden und mit dem wir  einstimmen in das Lob Gottes.

 

Und so endet die Kantate und auch meine Predigt mit den Worten:

 

Das alles hat er uns getan, sein groß Lieb zu zeigen an. Des freu sich alle Christenheit und dank ihm des in Ewigkeit.

 

Amen.

 


 

Fürbittgebet

 

Gott,
wir danken Dir für diesen Tag, für die Freude in uns, für die Musik und den Gesang, für die Festlichkeit dieses Ortes und zu Hause, für die Liebe, mit der du uns begegnest und unsere Herzen weit machst.

 

Wir bitten dich für alle,
in deren Leben wenig Platz ist für Weihnachtsfreude.
Für die Menschen in der Ukraine,
die in Dunkelheit und Kälte ausharren;
für die Soldaten, die nach Hause wollen;
für die Flüchtlinge, die niemand haben will
und die nicht wissen, wohin.
Und wir beten für alle, die versuchen,
ein wenig Licht und Wärme zu ihnen zu bringen.
Komm zu ihnen und zu uns,
und beschenke uns neu mit deinem Frieden.

 

Wir bitten dich für alle Schwangeren.
Für die, die sich auf ein Wunschkind freuen,
und für die, die über ihre Schwangerschaft verzweifelt sind.
Wir bitten dich für die Frauen im Iran und in Afghanistan,
die im Kampf für ihre Rechte und ihre Freiheit ihr Leben riskieren.
Wir beten für alle,
die sich für gleiche Rechte und Sicherheit und Freiheit einsetzen.
Komm zu ihnen und zu uns,
und erfülle uns neu mit deiner Kraft.

 

Wir bitten dich für alle,
deren Leben innerlich überschattet ist.
Für die Familien, die zerstritten sind;
für die Trauernden, denen geliebte Menschen fehlen;
für die Kinder, die zu Hause nicht sicher sind;
für alle, denen Angst und Armut die Lebensfreude rauben.
Komm zu ihnen und zu uns,
und schenke uns neu deine Güte.

 

Wir bitten dich für die Menschen,
die uns nahe sind,
die unser Leben hell machen,
die uns ihre Liebe schenken
und die wir lieben dürfen.
Und wir beten für die, die wir vermissen,
um die wir uns sorgen,
denen wir nicht helfen können.
In der Stille nennen wir dir ihre Namen.

 

Stille.

 

Komm zu ihnen und zu uns, Gott, und schenke uns deine Gegenwart und deine Liebe.
Amen.

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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