Predigt am 8. Januar 2023 – 1. Sonntag nach Epiphanias

Pastor i.R. Sebastian Borck

„Dass du mich siehst!“ (1. Mose 16)

 

Glauben fängt mit Verwunderung an, liebe Gemeinde.


Dass du mich siehst! Dass du mich überhaupt bemerkst, da, wohin ich geraten bin, in meinem Hin und Her, in meiner misslichen Lage! Dass du mich siehst! Dass deine Augen mich suchen und auffinden, dort, wohin ich verlorengegangen bin! Dass du mich aufsuchst und ansprichst, Gott, mich, der ich ein Nichts geworden bin, vor anderen wie vor mir selbst! Dass du mich wahrnimmst und wert erachtest, dir zu begegnen und dein Gegenüber zu sein! Dass du mich erkennst und anerkennst!


So etwa lässt sich Hagars Verwunderung in Worte fassen, als sie auf der Flucht vor Sarai in die Wüste gekommen, auf einmal bei ihrem Namen angesprochen wird: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her, wo willst du hin? und auf ihre Antwort hin zu hören kriegt: Kehr wieder um zu deiner Herrin. Du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären. Den sollst du Ismael, = der Herr hat dein Elend gehört, nennen. Unzählig viele Nachkommen wirst du haben. So erkannt, gibt auch sie dem, der durch den Engel mit ihr gesprochen hat, einen Namen: El-Roi = du bist ein Gott, der mich sieht!


Glaube hat nicht das Wunder zur Voraussetzung, dass sich alles geändert hat und alle Probleme gelöst sind – im Gegenteil: Sie muss zu ihrer Herrin zurück und tun, was sie zugesagt hat, Abram und ihrer Herrin an ihrer Statt ein Kind gebären. Doch dass sie in ihrer verworrenen Lage, in die sie geraten ist, auch durch eigenes Mitverschulden, gesehen ist und sogar würdig, einer großen Verheißung zur Zukunft zu verhelfen – das ist der Kern ihrer Verwunderung, ihres Glaubens.


Wo kommst du her, wo willst du hin? klingt wie die Frage nach uns zu Beginn dieses Jahres im Blick zurück und im Fragen nach vorn. Was für Hagar mit dieser Frage beginnt, ist nicht die wundersame Verwandlung ihrer Lage, sondern die Verwunderung, in ihrer Lage so überhaupt gesehen und einer Ansprache gewürdigt zu werden. Dass du mich siehst, Gott! drückt ihr Erstaunen aus. Dieser Glaube hilft ihr annehmen, was ist, und die Herausforderungen, die kommen, bestehen.


Dass du mich siehst, Gott! – dieses Bekenntnis ist die Mitgift für uns aus dieser alten Geschichte, die Losung und zugleich Namensgebung für Gott, die uns dieses Jahr geleiten und begleiten soll.


Dass du mich siehst, Gott! – Halten wir einen Moment inne, und beziehen wir es auf uns selbst. Schauen wir hin. Und lassen wir zu, dass Gott uns ansieht und Gegenüber ist. Er sieht nicht nur, was vor Augen ist, sondern sieht das Herz an. Das hilft, anzunehmen, was ist, auf dass es sich dann auch ändern kann.


Zugrunde liegt dem dieselbe Stimme, die in der Bibel immer wieder zu hören ist: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Und weiter: Fürchte dich nicht, ich bin mit dir. Weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch. Ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.


Was mit der Verheißung an Abram in fernen Landen begonnen hat und Hagar in der Wüste widerfährt, was die Propheten festgehalten und erneuert haben, das vollzieht Jesus in Begegnungen mit Menschen am Rande und das verdichtet sich in ihm zur Zusage einfürallemal, wie sie von den Hirten auf dem Felde vernommen wird: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.


Leiten die Muslime sich von Ismael, dem Sohn der Hagar, her – Hagar, die als einzige Frau eine derartige Nachkommenverheißung empfängt – so nennen wir Christen Jesus von Nazareth unseren Bruder und Herrn, Mensch uns Menschen zugute, Inbegriff der Nähe Gottes, Immanuel, und feiern, dass er uns geboren ist. Dass du uns so in den Blick nimmst, Gott!, das könnte unser weihnachtliches Bekenntnis sein.


Das verändert das Anfangen im neuen Jahr. Denn so brauchen wir nicht mit hehren Selbstoptimierungs-Vorsätzen zu beginnen – mit Erstaunen fängt alles an: Dass du mich siehst, Gott!


Und mit Erstaunen kann es auch weitergehen. Denn wer sich unverhofft gewürdigt erfährt, kann davon auch weitergeben, kann sich umso freier Menschen zuwenden, die das brauchen, kann tun, was glücklicherweise viele tun: helfen – und auf diese Weise von anderen zu hören bekommen, was schon Hagars Bekenntnis war: Dass du mich siehst!


Amen.

 


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