Predigt am 16. Juli 2023 – 6. Sonntag nach Trinitatis mit Jazz aus Litauen

Pastor Frank Engelbrecht

„Alle Menschen wie Geschwister“ (Jesaja 43,1–7)

 


Die Gnade des Vaters, die Liebe unseres Herrn und Bruders Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

 

„In Ermangelung einer Auffassung des guten Lebens, nach der sich … leben (lässt), verringert(e) sich die Reichweite der praktischen Vernunft.“

 

Dieser Satz stammt aus dem Buch des amerikanischen Philosophen Jonathan Lear: „Radikale Hoffnung - Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung“. In diesem Buch ringt Jonathan Lear mit der Frage, was Menschen und Gesellschaften tun können, denen die Grundlagen ihrer bekannten Welt verloren geht, so dass sie alle Orientierung und allen Halt verlieren, weil nichts mehr ist, wie es mal war, und das, was einst galt, mit einem Male seine Bedeutung verloren hat. Er tut das am Beispiel der Crow, einem Indianer-Stamm aus dem mittleren Westen der USA. Im Laufe des 19. Jahrhunderts müssen die Crow in der Auseinandersetzung mit weißen Siedlern ihr angestammtes Land verlassen und bekommen ein Reservat zugewiesen. Diese Umwälzung kommentiert Plenty Coups, Häuptling der Crow in dieser Zeit, mit den Worten: „Danach ist nichts mehr geschehen.“

 

„Danach ist nichts mehr geschehen.“ Dieser Satz, so Jonathan Lear, habe ihn getroffen wie ein Schlag in die Magengrube; und so beginnt er sein Buch zu schreiben. Er will ergründen will, welche Auswege Menschen haben, wenn ihnen so etwas geschieht. Wie kommen wir da raus, wenn uns die Zeit stehen bleibt, wie bei den Crow, denen mit dem Umzug ins Reservat ihre geographisch und seelisch verwurzelten Lebenszusammenhänge abhandenkommen?

 

Äußerlich leben sie zwar weiter: sie lieben, leben, kochen, streiten, feiern und versuchen ihr Leben auf viele weitere Weisen zu bestehen - das alles aber ohne Zusammenhang, ohne Sinn, ohne Ziel. Nichts Neues geschieht mehr unter der Sonne; als hätte jemand ein Ventil geöffnet und alle Farbe aus den Bildern ihres Lebens ablaufen lassen.

 

„Danach ist ist nichts mehr geschehen!“ Das kommt dem Verlust jeglicher Perspektive gleich und damit zugleich dem Verlust der Antwort auf die Frage, was das ist: „Das gute Leben!“

 

Diese Verluste kann lebenbedrohlich für uns und andere werden; denn die Frage nach dem guten Leben, das ist die Frage danach, wann wir unser Leben als sinnvoll erfahren, erfüllt, unserer Menschlichkeit entsprechend, glücklich im weitesten Sinne des Wortes. Wenn wir das nicht mehr wissen, oder wenn wir darauf verquaste Antworten geben, verlieren wir allen Halt, gehen selbst oder führen andere in die Irre. So wie die Magier aus dem Morgenland - ich bitte dieses Weihnachtsbild mitten im Sommer zu entschuldigen. Aber die ihr Beispiel zeigt, wie gefährlich das werden kann, wenn wir Orientierung verlieren. Denn als den Weisen ihr Stern aus dem Blick verlieren, gehen sie um ein Haar dem gewalttätigen Herodes auf den Leim.

 

Daran, dass so etwas selbst derart weit gereisten und weisen Herrschaften passieren kann, können wir ablesen, wie schwer das beizeiten sein kann, die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben zu finden und festzuhalten. Denn diese Antwort hängt nicht allein an Äußerlichkeiten, also an dem, was ich besitze oder darstelle.

 

Das das ist der Trick des Versuchers in der Wüste, der im Evangelium des Matthäus Jesus dazu verführen will, seine Botschaft vom Reich Gottes einfach kraft der Insignien von Reichtum, Ideologie und Macht unter die Leute zu bringen. Aber das funktioniert nicht: Reichtum allein macht nicht glücklich, ebenso nicht Macht allein oder die feste Überzeugung, Recht zu haben. Zugleich hilft es nicht, wenn ich mich an mein Innerstes halte, also an meine Talente und meinen Charakter, meinen Träume; das alles ist wichtig und kann hilfreich sein. Aber das ist alles nichts ohne die Einbettung meines Lebens. Die Antwort auf die Frage nach dem, was das gute Leben ist, braucht ein Umfeld, Gemeinschaft, Anerkennung und Resonanz in den Traditionen und der Geschichte aus denen ich komme und in denen ich mit meinem Leben mitwirke, mit denen ich mich auseinandersetze, in die ich mich einfüge, die ich weiterführe oder auch, denen ich mich widersetze.


Denkt nur an die vielen jungen Menschen, die jetzt gerade seit dem letzten Schultag am vergangenen Mittwoch ihren Schulabschluss in der Tasche haben und hoffentlich rauschende Schulabschlussfeste feiern konnten. Glückwunsch an Euch alle, ganz gleich, wie ihr genau abgeschnitten habt. Glückwunsch und zugleich Respekt, denn nun tretet Ihr ein in ein neues Land. Alle Türen stehen Euch offen, sagen wir Älteren gerne, und Ihr mögt vielleicht den Funken Neid spüren, der da manches Mal mitklingt. Dabei vergessen wir leicht, dass das Bestehen der Schule und der Eintritt in eine neue Lebenszeit auch mit einer Vertreibung verbunden ist. Das ist die Vertreibung aus der Einbettung in die Welt der Kindheit und Jugend in einer Schule. Die hat zwar oft auch genervt oder vielleicht gar Angst gemacht mit all den Hausaufgaben und Klausuren. Aber sie hatte einen großen Vorteil: sie gab mir einen Rahmen für die Frage nach dem guten Leben; und wenn das nur war, dass zum guten Leben gehörte, zu wissen, dass ich morgens zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort zu sein hatte, und dass es meine Aufgabe war, rechtzeitig meine Hausaufgaben zu machen und für allerlei Fächer zu lernen. Dieser Rahmen war in den Jahren der Schulzeit beständig und zuverlässig da, und er blieb auch gültig, selbst wenn ich oder andere zu spät kamen, wir unsere Hausaufgaben vernachlässigten oder bei anstehenden Klausuren schummelten. Ganz anders jetzt: wenn der Rausch des Schulabschluss-Balls verklungen ist, bleibt die große Frage: „Was soll jetzt aus mir werden?“ Will sagen: „Jetzt bist Du dran, mein Lieber, meine Liebe, die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben selbstständig zu finden!“

 

Das kann durchaus zu einer gewissen Ratlosigkeit führen und Handlungskräfte lähmen, womit wir wieder beim Eingangszitat von Jonathan Lear wären: „In Ermangelung einer Auffassung des guten Lebens, nach der sich … leben (lässt), verringert(e) sich die Reichweite der praktischen Vernunft.“ Daraus erklärt sich, warum der eine oder die andere nach dem Schlussabschluss nicht recht weiß, was sie machen soll. Das theoretische Wissen ist da, nicht umsonst haben wir die Abschlussprüfungen bestanden, allein es fehlt an der Handlungsfähigkeit praktischer Vernunft.

 

Nun dürfen wir davon ausgehen und hoffen, dass die Mehrheit derer, die ihre Schule beschließen, ihren Weg finden, auch wenn sie zunächst eine gewisse Ratlosigkeit verspüren. Aber was, wenn der Verlust an Einbettung bleibt oder tiefer geht? So wie bei den Crow, die sich geographisch, seelisch und kulturell derart entheimatet erleben, dass sie jegliches Gefühl dafür verlieren, woher sie kommen, wohin sie gehen wollen, und wofür es sich für sie dementsprechend zu leben lohnt, noch mehr: wofür es sich zu sterben lohnt. Dafür hatte dieses Volk der Krieger und Jäger vor den Umbrüchen klare Vorstellungen, die spätestens mit dem Umzug ins Reservat weggewischt sind wie Kreideschrift vom Schwamm an der Schultafel.

 

„Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jesaja 43,1) So spricht Gott aus dem Munde Jesajas zu seinem Volk, zu Israel. Und nachdem bisher gesagten, verstehen wir, worauf diese Worte zielen. Die Verheißung Gottes aus dem Munde des Propheten will seinen geliebten Söhnen und Töchtern, zu denen er spricht, den bergenden Mantel seines des Trostes umlegen. Er will seinem Volke Israel die Einbettung wiederaufrichten, die dem Volk, wie den Crow, verloren ging, und das nicht nur einmal, sondern immer wieder in der Geschichte: in Krieg und Deportation, bis ins Unermessliche gesteigert in der unfasslichen Zerstörungswut des Holocaust: „Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.“ (Jesaja 43,2b). Diese Worte machen eine nahezu unfassliche Spannung zwischen geschichtlicher Wirklichkeit und biblischer Verheißung auf, die mein Herz mit einer klammen Demut berührt. Ich frage mich, wie das gehen soll, dass wir uns in diesem Verheißungswort an das Volk Israel angesichts der Geschichte unserer Völker mitgemeint hören wollen?


Aber bevor wir uns in der Sorge verlieren, ob wir Möglichkeiten finden, Anteil an diesem kraftvollen Zuspruch Gottes im Lied des Jesaja zu haben, erscheint mir wichtiger, dass wir uns die Widerstandskraft vergegenwärtigen, die in den Worten des Propheten steckt. Widerstand gegen das Schweigen, in das Gewalttäter die Deportierten, Geknechteten, Entheimateten und des Lebens beraubten immer wieder neu zwingen wollen. Gegen dieses Schweigen erhebt der Prophet seine Stimme und spricht Worte der Verheißung, der Ermutigung, des Trostes. Dabei schert er sich nicht um die Wirklichkeit und ihrer erschlagenden Übermacht, sondern stellt dieser Wirklichkeit eine Wahrheit entgegenstellen, mehr noch: er will diese Wirklichkeit mit der Wahrheit seines Gottes durchdringen wie Hefe den Brotteig, um die „radikale Hoffnung“ zur Entfaltung zu bringen, der Jonathan Lear in seinem Buch auf der Spur ist.

 

Das ist eine Hoffnung, die darauf setzt, dass keine Zerstörung massiv genug ist und kein Riss so tief reicht, dass sie die Einbettung unseres Lebens in unsere von Gott geschenkte Menschlichkeit endgültig auszulöschen vermögen. Diese Hoffnung gründet bei Jesaja auf die Worte des Gottes, der die Entheimateten von allen Enden der Erde zusammenruft, sie innerlich und äußerlich neu sammelt und der ihnen damit die Kraft einflößt, die sie brauchen, um ihrer Antwort auf die Frage nach dem guten Leben neuen Geist einzuhauchen. So können sie sich aufrichten aus dem Staub, Perspektive gewinnen, Trost finden, Hoffnung schöpfen und das Wissen darüber zurückgewinnen, für wen und für was es sich zu leben und zu sterben lohnt.

 

Diesen Ball nimmt der Christus bei Matthäus auf, dessen letzte Worte vor seiner Himmelfahrt wir heute gehört haben: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“ Mit diesen Worten zeigt er an, wo Machtmonopol über den Sinn und die Würde unseres Lebens liegt: Nämlich nicht bei den Mächtigen dieser Welt, sondern unerreichbar im Himmel und damit zugleich mitten unter uns hier und jetzt auf Erden, denn: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

 

Mit dieser Zusage zielt der Auferstandene darauf, die eingeschrumpfte Reichweite unserer praktischen Vernunft stetig neu zu weiten, damit wir, komme, was da wolle, uns die Fähigkeit bewahren, unseren Blick zu heben und die Offenheit des Horizonts in uns aufnehmen, die in diesen Ferienzeiten zu uns kommt, wenn wir an Meer fahren und bei Sonne oder Regen, Flaute oder Sturm an den Strand gehen; damit wir uns also die Fähigkeit bewahren, diese Offenheit des Horizonts auf Erden als Verheißung einer immerwährende himmlischen Perspektive zu verstehen, welche den Stillstand der Zeit aufhebt und die Farbe des Lebens zurückfließen lässt in unsere Wangen und in die Welt.

 

Schluss mit all diesen langweiligen und unzähligen „XYZ-First“-Parolen. Stattdessen Aufbruch, dem neuen Jerusalem entgegen, wie beim Blick hier in St. Katharinen auf und durch das Gloria-Fenster, dem Neuen Jerusalem entgegen, in dem wir alle Kinder dieser Erde und den ganzen Planeten in den Blick bekommen – aber nicht nur in den Blick bekommen, sondern auch Mut, Phantasie und Kraft dafür finden, diesen Blick an den Orten, an die wir gestellt sind, mit entsprechenden Taten zu unterlegen. Das ist heute mehr denn je angesagt, wenn wir der massiven Verkürzung unserer praktischen Vernunft entgegentreten wollen, die uns dieser Tage in den unzähligen Kriegen entgegentritt, die wir gegen Mensch und Natur, letztlich gegen uns selbst führen.

 

Dafür steht die „Radikale Hoffnung“, wie Jonathan Lear sie nennt. Diese Hoffnung gründet mit den Worten des Jesaja und des Christus von diesem Sonntag im Glaube daran, dass eine mit durch Güte, Menschlichkeit, Zuversicht und Phantasie erweiterte praktische Vernunft nicht bloß ein schöner Traum ist, sondern dass diese derart erweiterte praktische Vernunft eine echte und zudem die einzig sinnvolle Möglichkeit unseres Lebens darstellt.

 

Nichts Geringeres als diese Hoffnung und diesen Glauben hält die Verheißung der Taufe für uns bereit, zu der Jesus seine Jünger aussendet, und in der uns auch eine Tür auch zu dem Zuspruch des Jesaja aufgeschlossen ist: in aller Demut im Glauben an den Juden Jesus: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jesaja 43,1)

 

Diese Hoffnung, diese Zuversicht und diesen Glauben an die Einbettung unserer Zeit in die Ewigkeit Gottes, die unserer Frage nach dem guten Leben menschliche Handlungsperspektiven schenkt, diese Hoffnung, diese Zuversicht, diesen Glauben feiern wir heute im Gottesdiensten zum 6. Sonntag nach Trinitatis. In St. Katharinen tun wir das mit Jazz: dieser Musik, die der Weite dieses Sonntags einen Klang gibt: mit ihrer spielerischen Vielfalt und mit ihrer Faszinierenden Geschichte und ihrer Herkunft aus den Spirituals, diesen Widerstandsliedern der schwarzen Sklaven, die längst die Welt eroberte haben.

 

Dazu kommt, dass wir diesen Sonntag nicht nur mit irgendeinem Jazz feiern, sondern mit Jazz aus Litauen, also aus unserem Nachbarn von der östlichen Ostseeküste. Das ist wunderbar und ein echtes Geschenk. Denn die Nachrichten, die wir in Deutschland in diesen letzten Wochen aus Litauen gehört haben, handelten vor allem von der Grenze zu Belarus mit der ominösen Bedrohung durch Wagner-Truppen, von Militärflugübungen und der jüngsten NATO-Tagung. Nicht, dass wir diese Nachrichten geringschätzen. Aber während diese Nachrichten etwas von der Wirklichkeit der Schatten erzählen, welcher der Angriffskrieg gegen die Ukraine wirft – über Litauen noch unmittelbarer als über Deutschland oder Hamburg –, während uns also die allgemeinen Nachrichten etwas von dieser dunklen Wirklichkeit unserer Gegenwart erzählen, bringt Eure Musik etwas von dem Klang der Wahrheit des Lebens zu uns, von dem Jesaja und Matthäus erzählen.

 

Dieser Klang öffnet Grenzen, verbindet Herzen, baut Brücken, sodass wir hören und spüren, wie sich das anhören und anfühlen könnte, wenn es uns endlich gelingt, dass wir im Kleinen wie im Großen wehrhaft bleiben, den Krieg in die Tonne treten und stattdessen endlich dahin kommen, dass alle Menschen wie Geschwister sind – Blue-Notes inklusive: „So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir!“ (Jesaja 43, 5a) -– „Alle Tage, bis ans Ende der Welt.“ (Matthäus 5,20b) „Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her! Und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“ (Jesaja 43,5b-7)

 

In diesem Sinne: Friede sei mit Euch, sei mit uns allen - und dazu die fröhliche und heilende Kraft der Musik - The Basement Jazz Crew mit Kotryna und Jazz spielen jetzt: „Ich lobe die Kraft der Liebe!“ Amen.

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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