Predigt am 27. August 2023 – 12. Sonntag nach Trinitatis

Pastor Frank Engelbrecht

„Nur eine kleine Weile noch …“ (Jesaja 29,17–24)

 


Predigtext: Jesaja 29,17–24
17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. 18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; 19 und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. 20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, 21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen. 22 Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. 23 Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – ihre Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. 24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.

 

 

Die Gnade des Vaters, die Liebe unseres Herrn und Bruders Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

 

„Das Warten ist die Haltung, die dem Schönen entspricht!“ Dieser Ausspruch stammt von Simone Weil, der französischen Philosophin, Mystikerin und Sozialrevolutionärin jüdischer Abstammung. „Das Warten ist die Haltung, die dem Schönen entspricht!“ Mit diesem Wort stellt sich Simon Weil gegen die Vorstellung, wir könnten die Wahrheit der Welt und unseres Lebens ergreifen, festhalten, besitzen. Stattdessen dreht sie den Spieß um und entdeckt, dass wir uns entdecken lassen müssen, von der Wahrheit, die ich der Einfachheit halber für den Moment gleich setze mit der Schönheit, weil echte Schönheit niemals ohne Wahrheit sein kann, und echte Wahrheit niemals ohne Schönheit; nicht, dass es nicht auch hässliche Wahrheiten gäbe. Aber diese Hässlichen Wahrheiten sind doch in Wirklichkeit keine echten Wahrheiten, sondern aufgedeckte Lügen. So wie die, von denen Jesaja in seiner Prophezeiung spricht: die Wahrheit der Tyrannen und Verächter der Gerechtigkeit - Spötter nennt Jesaja sie, die um die Wahrheit und Schönheit des Lebens nicht scheren, sondern sie mit Füßen treten, so wie sie nach allem treten, was ihnen im Wege steht, und damit ein Unheil nach dem anderen anrichten: sie verdrehen das Recht und sprechen willkürlich schuldig, und wer in der Öffentlichkeit widerspricht, muss um Leib und Leben fürchten oder verlieht unschuldig seine Freiheit. Klingt bekannt, oder? Das hört sich an, als blicke Jesaja durch ein Zeitfernrohr in unsere Gegenwart und kommentiere sie kopfschüttelnd.

 

Aber was rede ich, Jesaja schüttelt nicht den Kopf, wie wir das tun, wenn das, was wir sehen, uns rat- oder fassungslos macht. Die Rede des Jesaja ist nicht ratlos oder fassungslos, sondern erwartungsschwanger. Hier spricht einer, der wartet. Aber das ist kein Warten, wie beispielsweise das Warten auf die Bahn, wenn wir versuchen die Zeit totzuschlagen. Sondern das ist ein Warten in Erwartung, vergleichbar mit dem sehnsuchtsvollen Warten auf die Bahn, die uns die Liebste oder den Liebsten nach langer Trennung wiederbringt. In diesem Warten tun wir gut daran, die Zeit nicht totzuschlagen, sondern ihr abzuspüren, wie sie uns mit jeder Sekunde, die vergeht, mehr anfüllt mit der Vorfreude auf das Wiedersehen, mehr noch, auf den Moment der Gegenwart der Geliebten nicht nur am Telefon oder in Briefen oder in der Erinnerung, sondern in einer ganz und gar gegenwärtige Gegenwart, die uns erlaubt, dass wir einander in die Arme schließen, so fest, dass wir einander hören, riechen und spüren, wie der Atem geht, das Herz schlägt: „Wohlan, es ist nur noch eine kleine Weile!“ Dieses Warten in Erwarten ist die Haltung, die dem Schönen entspricht. Und zwar nicht nur während wir warten, sondern auch wenn der Zug längst im Bahnhof eingefahren ist und wir uns schon längst fröhlich in den Armen liegen. Denn die Gegenwart des Geliebten führt bemerkenswerter Weise, dass die Erwartung, mit der so sehnsuchtsvoll aufeinander gewartet haben, aufhört. Vielmehr führt diese Gegenwart dazu, dass diese Erwartung nun erst recht Flügel bekommt und über sich hinauswächst.

 

Der Schriftsteller Günther Anders beschreibt diese unauflösliche Verbindung des Wartens in Erwartung von seiner Erfüllung ganz wunderbar in seinem Traktat Mariechen: Eine Gutenachtgeschichte für Liebende, Philosophen und Angehörige anderer Berufsgruppen. Er schreibt: „Wenn man nämlich wirklich liebt, dann / sehnt man sich, obwohl der andre / nebenan sitzt (ganz als wär er / schrecklich weit verreist), zu Tode — / während man, auch wenn er fort ist, / dennoch spürt, er ist zu Hause.“

 

Nun erzählt uns Jesaja keine Liebesgeschichte. Sein erwartungserfülltes Warten, in dem Geduld und Ungeduld sich die Hand reichen wie zum Tanz, richtet sich jedenfalls in dieser Rede nicht auf einen geliebten Menschen, sondern auf nichts Geringeres als auf: Frieden. Als Erstes Frieden zwischen Mensch und Natur: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.“

 

In diese Zeilen können wir die Sehnsucht und die Hoffnung, das Seufzen und das Bangen der Vielen legen, deren Welt untergeht in Feuern des Krieges wie in der Ukraine oder der Waldbrände, wie auf Rhodos oder Hawaii, oder auch in Überschwemmungen nach Fluten aufgrund Naturkatastrophen oder wegen zerstörter Staudämme.

 

Von der Belagerung Jerusalems durch die Römer im jüdischen Kriege 70 nach Christus hat mein Vater mir einmal erzählt, die Römer hätten großflächig Wälder um die Stadt gerodet, um Holz für die Kreuzigungen ihrer Gegner zu gewinnen, derer sie während der Belagerung habhaft werden konnten. Am Ende überforderte die Zahl der Kreuze die Kapazitäten der Wälder, so dass zum Schrecken, welchen der Anblick der massenhaft Hingerichteten in die Landschaft stellte, die Ödnis der durch die Massenrodungen geschundenen Landschaft kam. Ich bin nicht sicher, ob diese Erzählung der historischen Wahrheit entspricht; aber allein schon, dass so etwas vorstellbar ist, verweist auf den engen Zusammenhang der Zerstörung, welche der Krieg nicht nur unter Menschen, sondern auch in Landschaften und der Natur ausrichtet. Symbolisch dafür steht für uns heutige der Einsatz des Entlaubungsmittels Agent Orange als Waffe gegen Natur und Menschen im Vietnam-Krieg.

 

Gegen diesen Zerstörungszusammenhang stellt Jesaja die Verheißung von den üppigen Landschaften: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.“ Davon träumen ganz aktuell übrigens auch die Stadtentwickler weltweit: davon, dass wir unsere Städte von Betonburgen zu grünen Schwammstädten weiterentwickeln, in denen wir nicht gegen Wasser und Grün abarbeiten, sondern im Zusammenspiel von Wasser und Grün leben.

 

Dieser Frieden zwischen Mensch, Landschaft und Natur begründet und mündet im Frieden unter den Menschen. Frieden verlangt hier nicht die Abwesenheit von Streit, sondern spricht vom vom Vorrang des Rechts, das uns dazu befähigt, zu streiten, ohne Krieg zu führen, wie die Tyrannen das ihrer Natur nach tun.

 

Im Frieden begreifen wir, dass wir des Streits bedürfen, des Streits als notwendiges Ringen um Wahrheit, und das wir aufgefordert sind, uns darin zu üben, ohne Gewalt und Tyrannei, dafür getragen von Recht und Gerechtigkeit und mit dem Mut, einander herauszufordern, wertzuschätzen, indem wir im Streit aneinander dranbleiben.

 

Aber geraten wir da nicht in einen Widerspruch zur Einsicht von Simone Weil, mit der wir in diese Predigt begonnen haben: „Das Warten ist die Haltung, die dem Schönen entspricht!“ Wie soll das zusammengehen mit Streiten und Ringen und damit auch mit Anpacken und Festhalten. Denn ohne Anpacken und Festhalten kein Ringen und kein Streiten - Recht hin und Gerechtigkeit her. Die Antwort lautet: Das geht sehr gut zusammen. Das können wir an der Person von Simone Weil selbst sehen. Als Mystikerin und Philosophin war sie durch und durch dem praktischen Leben zugewandt, so dass ihre mystische Haltung mitnichten darin mündete, dass in innerer Einkehr die Hände in den Schoß legte. Stattdessen war im hohen Grade politisch engagiert, arbeitete in Fabriken, um den Arbeitern ihre Solidarität zu signalisieren, beteiligte sich im Widerstand gegen die Franco-Diktatur in Spanien und gegen die Tyrannei Hitlers in Deutschland und Europa. Das zeigt: Der Widerstand gegen Gewalt und Diktatur ist folgerichtig, wenn wir dem erwartungserfüllten Warten Raum schaffen und es erhalten wollen in unserem Herzen und in der Welt.

 

Keine Frage: jeder aktive Widerstand steht immer in Gefahr die Grenze zu überschreiten und das Glück, die Freiheit, die Wahrheit und in alledem die Schönheit erzwingen zu wollen. Das geschieht, wenn uns unsere Umarmungen in fröhlicher und sehnsüchtiger Freiheit zu erstickenden Umklammerungen werden. Der Übergang zwischen diesen beiden kann bisweilen leider fließend sein. Identisch sind die beiden - die Freiheit der Umarmung und der Zwang der Umklammerung - aber niemals. Das haben wir gerade beim übergriffigen Kuss erlebt, den der spanische Fußball-Verbandschef Rubiales der spanischen Fußballweltmeisterin Jenni Hermoso bei der Siegerehrung nach dem gewonnen Finale bei der Frauen-Fußball-WM aufdrückte.

 

Entscheidend ist, dass wir die Kraft des Widerstands und die Energie unseres Anpackens und Ringens nicht verwechseln mit der Erfüllung dessen, worauf wir voller Erwartung warten. Die Liebe, die Wahrheit, das Glück, der Frieden, Gerechtigkeit, die Poesie und alle Schönheit, die Gegenwart Gottes: sie alle lassen sich niemals erzwingen, weder mit Geld, Macht oder Gewalt. Sie lassen sich nur erwartungsvoll erwarten, wobei – wir haben es bereits gesagt – dieses erwartungsvolle Erwarten nicht aufhört, wenn das Erwartete eintrifft, sondern sich nur umso mehr steigert.

 

Das ist das wunderbare Geheimnis unseres Lebens, dass wir dieses erwartungsvolle Warten nicht loswerden, als hätte der ewige Gott selbst es uns selbst eingestiftet. Darin liegt das Geheimnis von allem, was lebt: das ganze Universum vom kleinsten Atom bis zur größten Galaxie bleibt von Sehnsucht und Erwartung durchdrungen, ganz gleich, was geschieht. Endgültig, abgeschlossen und fertig ist allein der Tod.

 

Deshalb umfasst die Zeitangabe, mit der Jesaja seine Rede eröffnet, nicht allein eine zeitliche Dimension: „Wohlan, es ist noch eine kleine Weile!“ heißt also nicht bloß, dass die Erfüllung des Traums und der Hoffnung unmittelbar bevorsteht. Wenn dem so wäre, könnten wir mit Jesajas Worten kaum etwas anfangen. Denn die umspannende Schönheit und Gerechtigkeit der Welt und unter den Menschen in Israel und auch sonst auf unserem Planeten hat sich seit seinen Tagen noch nicht in der von ihm prophezeiten Weise eingestellt. Ginge es Jesaja also allein und vorrangig um eine Zeitansage, müsste er sich von uns fragen lassen: „Mein lieber Jesaja, wie lang willst Du eigentlich noch warten? Und wie lang lässt sich Deine „kleine Weile“ ehrlicherweise dehnen?“

 

Aber nun ist es dem Prophetenwort nicht allein um einen konkreten Zeitplan zu tun; stattdessen legt seine prophetische Rede – die doch viel mehr ist als ein Nachrichtentext oder eine Kurznachricht wie auf Twitter, indem sie Klarheit mit Poesie verbindet –, stattdessen also legt seine prophetische Rede eine geistliche Grundstruktur des Lebens und der Welt offen. Diese geistliche Grundstruktur erzählt davon, dass die erwartungsvolle Hoffnung und Verheißung, die Jesaja im Namen Gottes verkündet, dass diese Hoffnung und Verheißung direkt unter der Oberfläche unserer Wirklichkeit, unseres Lebens, dieser Welt brodeln, wie Magma oder die heißen Quellen in Island oder wie der Pulsschlag, den wir spüren, wenn wir unsere Finger auf die Unterseite unseres Handgelenks oder an unseren Hals halten.

 

Dieses Pulsieren lässt sich vom Leben nicht trennen; ebenso gehört das erwartungsvolle Erwarten, diese hoffnungsfrohe „kleine Weile“, zum Leben im Horizont des Glaubens, also zum im Wagnis, das darin besteht, dass wir mit oder wider allen Augenschein, an der Gegenwart Gottes und der Sinnhaftigkeit unseres Lebens festhalten, mehr noch: wir werden sie nicht los. Das kann uns Kraft in hoffnungsarmen Zeiten geben, das kann aber auch schmerzen, wenn Not und Ungerechtigkeit derart groß werden, dass wir an der Spannung und den Widersprüchen verzweifeln, der sich zwischen der Verheißung und der Wirklichkeit unseres Lebens auftut.

 

Aber eigentlich ist das nicht ganz richtig, wenn wir sagen: wir halten mit oder wider allen Augenschein an der Gegenwart Gottes und der Sinnhaftigkeit unseres Lebens fest. Vielmehr ist es so, dass es mit oder wider allen Augenschein die Gegenwart Gottes und der Sinnhaftigkeit unseres Lebens sind, die an uns festhalten, uns nicht loslassen. Damit gehören aber der Widerstand wider Willkür und alle Tyrannei unverbrüchlich zu unserer Menschlichkeit, zusammen mit dem Glauben an Recht, Gerechtigkeit und Schönheit.

 

Als Empfangende in diesem Glauben gehen uns die Ohren auf und finden wir unsere klare wahrhaftige Sprache wieder, wie im Gleichnis, das wir heute gehört haben, in dem Jesus einen Mann heilt und zu ihm spricht: „Hefata!, das heißt: Tu dich auf!“ Mit Augen und Ohren, Herz und Geist und allen Sinnen beginnen wir wahrhaftig zu sehen, zu hören und zu sprechen: und das heißt sehen und hören und sprechen mit dieser unablässig erwartungsfrohen Erwartung, so wie wir das von den Kindern kennen und die wir von ihnen, die so voll ungeduldiger du unverbrüchlicher Erwartung an das Leben sind, immer wieder neu lernen können.

 

Noch einmal Jesaja: „Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Du sollst nicht mehr beschämt dastehen, und Dein Antlitz soll nicht mehr erblassen. Denn wenn Du sehen wirst die Werke meiner Hände – Deine Kinder – in Eurer Mitte, wirst Du meinen Namen heiligen; … 24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.“ (Jesaja 29,22.23a.24). Schön wär‘s? Träum weiter? Nein: Was Jesaja hier ausspricht, ist nicht bloß ein schöner hippieesker Traum, sondern berührt und offenbart die Wahrheit unseres Lebens: „Das erwartungsfrohe Warten ist die Haltung, die dem Schönen entspricht.“

 

Amen.

 

 

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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