Predigt am 10. September 2023 – Verabschiedung von Frank Engelbrecht

Pastor Frank Engelbrecht

„Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir." (Hebräer 13, 14)

 



Die Gnade des Vaters, die Liebe unseres Herrn und Bruders, Jesus Christus, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

 

„War es genug? / ist es genug?"

 

Melancholisch bleibt der Blick des Dichters Arne Rautenberg an einer Taube hängen, die auf einem Tannenzweig wippt, vor einem Himmel, der blau leuchtet wie Vergissmeinnicht, und mit Wolken, die sich steil auftürmen wie die Haare der Zeichentrick-Figuren aus den berühmten Simpson-Cartoons. Ich kenne solche Bilder gut hier in St. Katharinen, beispielsweise vom Blick aus den Fenstern unseres Pastorats, in dem wir jetzt 20 Jahre gelebt haben. Zu dritt sind wir eingezogen, Sunniva, Muriel und ich. Bald waren wir fünf, mit Au Pair sogar sechs, denn Tali kam dazu, Ostern 2004, und Moritz wurde vor 15 Jahren hier unter diesem Dach geboren, eine Hausgeburt.

 

Wir alle kennen den wunderbar blauen Himmel beim Blick aus dem Fenster oder wenn wir oben auf dem Dach gesessen und die Aussicht genossen haben auf die wechselnden Farben dieses Himmels über der roten Speicherstadt. Und auch bei uns sitzen Tauben auf den Wipfeln der Bäume, die den Kirchhof wie ein kleiner Wald umrunden. Viele Tauben sitzen hier, allerdings nicht auf Tannen, die haben wir hier nicht; dafür die Platane, die hier mitten auf dem Hof steht, aus hätte es sie immer schon geben. Aber das ist natürlich Unsinn. Ein Baum an dieser Stelle wäre spätestens im Feuersturm 1943 in Flammen aufgegangen, als die Kirche niederbrannte: 8 Tage bei 1000 Grad. Historisch betrachtet ist unser Kirchhof eine Erfindung der Nachkriegszeit. Vor dem Kriege war St. Katharinen Straßenumrundet. Aber das spricht fur die Güte dieser Erfindung des Kirchhofs, dass sie den Eindruck zu wecken vermag, als sei das immer schon so gedacht gewesen.

 

Wie die Platane so dasteht, gleicht sie im Herzen des südlichen Kirchhofs, wenn sich unter ihr jeden Tag neu so viele so gerne versammeln, ganz gleich wie laut der Verkehr tost, gleicht diese Platane dem Apfelbäumchen, das Martin Luther zu pflanzen versprach, falls er vom Nahen des Weltuntergangs erfahren sollte; wir haben in den letzten Jahren etliche dieser Apfelbäumchen gepflanzt mit den Kindern aus den Schulen und Kitas in der HafenCity. Das jüngste Apfelbäumchen steht gleich hier neben der Kirche jenseits der Ostmauer unter dem Gloriafenster, das haben wir letztes Jahr zum Reformationstag gepflanzt im Rahmen unseres Verkehrsversuchs mit autofreier Neuer Gröninger Straße, unserem „Gröninger Straßenpark".

 

Allerdings lag der Weltuntergang damals, als die Katharinenleute diese Platane pflanzten, nicht vor, sondern hinter ihnen. Ich spreche vom Weltkrieg mit all dem Wahnsinn der Jahre unter dem Nationalsozialismus. Wer diese Symbolik damals oder heute nicht versteht, dem haben die Kirchenwiederaufbauer unter Bischof Herntrich deutliche Zeichen in die Kirche eingebaut. Weg mit der barocken Überbauung! Die war verbrannt und sollte nicht wiederkehren. Stattdessen, wie in der Reformation, zurück zu den Wurzeln, Rückkehr zu den klaren Linien der gotischen Architektur, dazu mehr Licht: das Fester im Osten erweitert und das Motiv ausgetauscht: Von „Jesus lehrt den Jüngern das Vaterunser" zum „Gloria-Fenster". Die Musik, die den Künstler Gottfried von Stockhausen zur Komposition dieses Glaskunstwerks inspiriert hat, haben wir eben im Orgelvorspiel gehört. Das ist der Choral von Philipp Nikolai, einst Hauptpastor in St. Katharinen: „Gloria sei Dir gelungen mit Menschen und mit Engeslzungen!" Da tanzen die Engel und musizieren Christus zu Ehren, für das Lamm Gottes, Hochzeitsmusik des neuen Jerusalem, das zu uns auf die Erde kommen will wie eine Braut zu ihrem Bräutigam: „Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein." (Offb. 21,3b-4a) Trostworte, die damals, nach dem Ende des II. Weltkriegs ins Herz trafen und heute wieder.

 

Dazu der neue Altar mit nachösterlichen Bildern: keine Kreuzigung, kein Mord, kein Tod, kein Schmerz, stattdessen: das leere Grab auf der linken Seite. Ganz rechts die Jünger, die dem Auferstandenen auf ihrer Flucht nach Emmaus begegnen und ihn erkennen, als sie mit ihm das Brot brechen – hier auf dem Altar abgebildet, als säßen sie in gemütlicher Skat-Runde zusammen –, daneben Thomas, der Jünger, dem das Mutmaßen des Glaubens an die Auferstegung einfach so ins Blaue nicht reicht. Er will begreifen, mit eigenen Händen anfassen, der Empiriker unter den Jüngern; in der Mitte schließlich der Heilige Geist. Das ist der Geist, der Verständigung schafft, indem er alle Sprachbarrieren überwindet: alle verstehen einander in ihrer je eigenen Sprache. Einheit entsteht hier nicht über Normierung oder Einfalt, zentralisiert oder uniform; stattdessen: Einheit in Vielfalt. Klingt unrealistisch? Verrückt? Mag sein. Die pfingsterfüllten Jünger haben damals am Tag von Pfingsten auch manche für besoffen gehalten. Waren sie aber nicht. Aber das ist wohl so, dass diejenigen, die sich ihre Träume, Hoffnungen und Wünsche vor
lauter Abgeklärtheit abgeschnitten haben, dass die jene anderen, die an ihren Träumen, Wünschen und an ihrer Hoffnung festhalten – und sei es unter Schmerzen -, dass sie die gerne für verrückt erklären. Nicht umsonst haben sie Jesus als Fresser und Säufer beschimpft, wenn er mitten in seiner Rede vom Reich Gottes und auch in Momenten höchster Gefahr darauf bestand, das Fest des Lebens zu feiern; und auch von Paulus ist ein solcher Seufzer überliefert: „Niemand betrüge sich selbst. Wer unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde." (1. Kor 3,18)

 

Also, wer sich vom Geist von Pfingsten ergreifen lassen will, diesem Geist, welcher dem Wiederaufbau dieser Kirche im Herzen des Altars eingezeichnet ist, muss schon etwas verrückt sein, heraus-gerückt aus den Fängen der instrumentellen Vernunft, die ihrem Wesen nach nicht an Wunder zu glauben vermag. Was seinerseits doch ebenso verrückt ist, wo doch unser Leben selbst ein Wunder ist. Denken wir bloß an die einfache Tatsache, dass wir atmen und lieben und lachen und auch weinen und Schmerz kennen auf diesem blauen Planeten, und dieses alles inmitten der unfasslichen Weite des zwar faszinierenden aber weitgehend brutal lebensfeindlichen Universums. Wunderbar – oder? Ob wir auf diese rhetorische Frage mit Ja antworten – Ja, das Leben ist in sich selbst ein Wunder – oder mit Nein antworten – Nein, die Rede vom Wunder des Lebens ist Schwärmerei, Träumerei, Opium fürs Volk, Überhöhung eines schlichten biochemischen Faktums – ob wir diese Frage also mit JA oder NEIN beantworten, daran entscheidet sich, ob wir ein Verständnis dafür haben, was Pfingsten bedeutet, und ob wir den Glauben wagen, dem Leben mehr zuzutrauen als dem Tode und uns darin unsere Hoffnung bewahren, von der Vaclav Havel einst so berührend gesprochen hat, als er sagte: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht."

 

Diejenigen, die diese Kirche wiederaufgebaut haben, waren da ganz klar in solcher Hoffnung nach vorne. Deshalb haben sie alles gegeben, ihr letztes Hemd gleichsam, das war damals vor allem ihr Grundbesitz, um diese Kirche wieder zu errichten inmitten der zerstörten Stadt. Und das, obwohl die Pläne zum Wiederaufbau der Stadt diese Kirche eigentlich nicht wirklich vorsahen: im Süden der Zollzaun, im Norden die Pläne für die
Stadtautobahn der Ost-West-Straße. Da war es eigentlich verrückt mittendrin eine Hallenkirche in dieser Größe wieder zu errichten. Heute erkennen wir das als Segen und Glück; als hätten sie damals geahnt, gehofft, geglaubt, dass die Isolation St. Katharinens zwischen Straßen, Zäunen und Kontorhäusern nur eine Weile dauern würde und die Stadt und die Menschen wiederkehren werden.

 

Seit den 20 Jahren und etwas länger, die ich hier ins St. Katharinen bin, wächst um die Kirche herum genau diese neue Stadt. Das ist zwar nicht gleich das neue Jerusalem, aber doch diese Stadt, in der wir mit viel Leidenschaft um diese Frage ringen: „Wie wollen wir  Leben? Mehr noch: Was ist das gute Leben? Und wie muss die gebaute Stadt dazu beschaffen sein." Dabei will der Wiederaufbau dieser Kirche uns Mut machen, nicht zu
schüchtern zu sein in unseren Visionen. Der Status Quo, die Einhegung St. Katharinens in ein brüllendes Straßengeflecht mag den Gesetzesgrundlagen zur Sicherung für die „Leichtigkeit des Verkehrs", wie es in der Verkehrsgesetzgebung heißt, entsprechen, wobei Verkehr hier bisher immer vor allem Autoverkehr meint. Aber so wie es dem Bedürfnis dieser Kirche ihrem Wesen nach entspricht, frei zu atmen und ins Zusammenspiel zu gehen mit denen, die sie besuchen, und mit der Stadt, die sie umgibt – Der Geist Gottes will wehen, wo er will (Johannes 3,8) –, ebenso müssen die Bestimmungen von gestern und heute nicht auf ewig gelten. „Denn wir haben hier keine Bleibende Stadt, sondern die kommende suchen wir!" Das ist der Spruch den Bischoff Herntrich seiner Gemeinde am Tage der Wiedereinweihung der Kirche ins Stammbuch oder besser über den Eingang im Turmraum geschrieben hat.

 

Wie er darauf gekommen ist? Ich weiß es nicht. Aber vielleicht hat er in den Tagen, als sich der Wiederaufbau von St. Katharinen seiner Vollendung nähert und die Einweihung der Kirche ansteht, vielleicht hat er da draußen auf dem Katharinenkirchhof gesessen und wie Arne Rautenberg eine Taube in einer der Bäume gesehen, wie sie auf einem Ast wippt. Dabei schießt ihm wohlmöglich im Gedenken an die grausamen Geschichten von Zerstörung und Bewahrung in den Tagen des Krieges und mit Blick auf das Wunder, dass es ihm und den seinen gelungen ist, die Katharina wieder aus den Trümmern hier am Hafen in Hamburg aufzurichten, wohlmöglich schießt ihm dabei also eine Träne ins Auge. Diese Träne bewirkt, dass der vergissmeinnicht-blaue Himmel zu flirren beginnt – Simpsonwolken kannte er noch nicht, denn die Simpsons waren in den 1950ern noch nicht erfunden. Und er denkt: „War es genug? Ist es genug?" Die Antwort? Ein klares Nein. Wir haben die Kirche erbaut, aber das ist nicht das Ende. Das ist erst der Anfang. Jetzt geht es erst richtig los. Das ist der pfingstliche Geist des Aufbruchs; denn auch Pfingsten erzählt doch nicht die Geschichte eines Happy End, sondern von einem geistreich-kraftvollen Aufbruch und Neubeginn.

 

Das ist der Irrtum der rührend verwirrten Jünger, die Jesus in der Geschichte von der Verklärung auf den Berg folgen. Dort werden sie Zeugen, wie der Himmel sich öffnet und Zeit und Ewigkeit sich küssen. Die Exegeten sagen, diese Geschichte sei das eigentliche Ostern beim Evangelisten Markus. Die anderen drei Evangelisten – Matthäus, Lukas und Johannes – stellen, der chronologischen Reihenfolge entsprechend, ihre Ostererzählung an das Ende ihrer Evangelien. Bei Markus steht Ostern in der Mitte. Damit signalisiert uns Markus: er möchte, dass wir sein Evangelium nicht linear, sondern zirkular lesen; also so, dass wir auf Ostern zusteuern, indem wir Ostern immer wieder von Neuem umkreisen,
stets mit der manches Mal schwer zu ertragenden Gewissheit, dass wir Ostern niemals ganz zu fassen vermögen. Das Geheimnis des Lebens bleibt offen, wie der Horizont, vor dem wir unser Leben auf dieser Erde leben und der unserem Leben eine Fassung gibt.

 

Aber bei dieser Fassung durch den Horizont handelt es sich um eine Fassung in Freiheit. Das erfahren wir, wenn wir uns dem Horizont nähern, beispielsweise, wenn wir mit einem Boot der Kante des Horizonts entgegen segeln. Das wirst Du erleben, Moritz, wenn Du ab Oktober auf die große Segelreise mit dem „Klassenzimmer unter Segeln" gehst und ihr mit der Thor Heyerdal von Kiel über Dänemark und die Balearen nach Kuba, Panama und zurück segelt, immer dem Horizont entgegen, der Euch geleitet, aber nie beschränkt, indem er eine Mauer bildet, an der das Schiff zerschellt, oder einen Abgrund, in den ihr stürzt. Anstatt unseren Raum auf der Erde zu beschränken, weicht der Horizont zurück: „O Heiland, reiß die Himmel auf!" Das ist der Schrei des Gefangenen, der sich eingesperrt hinter Gefängnismauern nach dieser Zärtlichkeit des Horizonts sehnt. Auf diese Weise sind wir auf diesem Planeten beheimatet unter das vom Horizont gezeichnete Himmelszelt, das uns schützt und birgt vor den – wie heißt es noch bei Raumschiff Enterprise? –, das uns schützt uns vor den unendlichen Weiten des Universums.

 

Aber das bergende Himmelszelt, das hier in St. Katharinen nachempfunden ist in der gotischen Weite der Kirche mit den Sternen am Kirchenfirmament, dieses bergende Himmelszelt ist eben kein festes Haus, so sehr wir uns das wohlmöglich manchmal wünschen. Jedenfalls wünschen sich das Petrus, Jakobus und Johannes. Kaum hat sich der Himmel geöffnet, so dass alles in einem illuminierten Weiß erscheint und die Heiligen
– in diesem Falle Mose und Elias – zum ihnen treten – da packen die drei Jünger an: „Stein auf Stein, Stein auf Stein, die Kirche wird bald fertig sein!" Aber der Christus kann darüber nur die Augen verdrehen. Während die Jünger noch fleißig am Bauen sind, schließt sich der Himmel und das Licht dimmt sich wieder zurück auf eine profane Lumen-Stärke. Tragisch: vor lauter Kirchbau haben die drei Jünger das Entscheidende verpasst und sich den Blick auf die Zusammenschau von Zeit und Ewigkeit verbaut. Das hinterlässt Wehmut und einen fahlen Geschmack auf der Zunge, wie Salz, das nicht mehr salzt, und sie spüren, wie sich ihr eigenes Licht verdunkelt, als würden sie es unter einen Scheffel stellen, anstatt es leuchten lassen zur Freude für sich selbst und alle, die es sehen. Das kann uns allen passieren, passiert uns immer wieder jeden Moment unseres Lebens neu.

 

Dagegen will diese Kirche St. Katharinen uns wappnen und aufrichten. Dafür ist sie seit jeher in österliches Weiß getaucht, auch wenn einiges von diesem Weiß immer wieder neu bröckelt. Dieses Weiß erinnert uns daran, dass diese Kirche im Letzten nicht aus Steinen errichtet ist, sondern Worten, aus Geschichten, Hoffnungen, Träumen, aus Vaclavscher Hoffnung und dem Glauben, der sie zusammenhält wie das Licht, das durch die Fenster fällt, uns erfüllt und umfasst und verbindet, weil es macht, dass wir einander sehen und erkennen. Die Stoffbahnen, welche der Künstler Arne Lösekann mit den Tänzerinnen und Tänzern des Current Dance Collective am letzten Freitag zum Tag des offenen Denkmals mit einer beeindruckenden und interaktiven Performance in diese Kirche eingebracht haben – wir alle, die dabei waren, sind Teil des Schauspiels gewesen –, diese 500 Meter weißer Tücher erinnern in ihren Schwingungen und ihrer weißen Transparenz genau daran: dass die Mauern und Säulen dieser Kirche keine Mauern und Säulen sind, wie wir sie aus Gefängnissen kennen, sondern der zurückweichenden Einfassung gleichen wollen, welche wir vom Himmelszelt kennen.

 

Gleichzeitig mahnen die massiven Mauern dieser stattlichen und zugleich warmherzig germütlichen Kirche daran, dass die kommende Stadt, nach der wir suchen, nicht nur in unserer Phantasie stattfinden soll, sondern ausgreifen will in die gebaute Welt. Das ist die Welt, in der vor 20 Jahren, als ich hier anfing, auf dem Gebiet der HafenCity neben ein paar alten Hafengebäuden und Baustelleneinrichtungen nur ein Bürohaus stand. Das SAP Geschäftsgebäude, heute Kühne und Nagel Logistic University. Heute haben wir an selber Stelle drei Schulen, drei Universitäten, sechs oder sieben Kitas, Restaurants, Bars, Clubs, Theater, Einzelhandel und Wohnraum vom geforderten Wohnungsbau bis zum Luxuswohnen für mehrere Tausend Einwohner, dazu Grünflachen, die sich Parks nennen, unseren Bolzplatz, den wir uns errungen und gebaut haben und Vieles mehr. Und auch
unsere Altstadt hat sich rasant entwickelt mit immer mehr Wohnen, sodass wir mit der Genossenschaft Gröninger Hof jetzt sogar bald anfangen Parkhäuser zu Heimstätten für Menschen umzubauen. Mittendrin in alledem St. Katharinen als organischer Teil der neuen Stadt, ein offenes Haus des Glaubens, der Kultur, der Musik in allen erdenklichen Genres, des Nachdenkens und der politischen Debatte.


Ich lasse meinen Blick innerlich über die Jahre und sich verändernden Landschaften gleiten, da sehe ich „durch ein naja tränenglitzer … zwei drückende Fragen: war es genug? / ist es genug?" Die Antwort fällt nicht schwer: „Selbstverständlich nein!" So viel ist noch zu tun, und die Verheißung vom Neuen Jerusalem, der Stadt für alle nach menschlichem Maß, ist längst noch nicht ausreichend angekommen hier an der Altstadtküste mit HafenCity und Speicherstadt im Süden und der Ost-West-Straßen durchpflügten Altstadt im Norden. Anfänge sind gemacht, aber die Aufgabe, den Geist, der dieser Kirche innewohnt, in die Stadt und mit und für die Menschen zu transferieren und auf vielfältige Weise in unseren Alltag und auch in die Gestalt der gebauten und bepflanzten Stadt zu übersetzen, diese Aufgabe, nach der kommenden Stadt zu suchen, bleibt bestehen, solange diese Kirche steht, im Zweifel bis zum jüngsten Tage.

 

Aber zugleich gilt: „Wir haben hier keine bleibende Stadt!" Ich schlucke. Denn nun kommt der Moment, in dem sich mir das Wort umwendet und sich mir verwandelt, vom Wort, über das ich spreche, zum Wort, das mich selbst und persönlich trifft und mir dabei seine dreifache Bedeutung eröffnet. „Wir haben hier keine bleibende Stadt!" Das ist begründet in meiner eigenen Begrenztheit und Sterblichkeit in meinem Amt, in dieser Welt, in meinem Leben. Das ist zugleich begründet in der Sterblichkeit und Begrenztheit der Welt unserer Kirche und der Menschen, in der ich und mit denen ich lebe. Und schließlich ist das eingebettet in den offenen Horizont, vor dem wir alle unsere Leben leben, eingebettet in den offenen Horizont, diesem Sinnbild der Ewigkeit. Dieser offene Horizont schreibt uns ins Herz ein, dass zum Leben inklusive unseres Sterbens gehört, dass wir uns aufmachen. Wie in der Geschichte von Abraham, den Gott auffordert sich aufzumachen mit Gottes Segen auf dem Weg: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein!" (Genesis 12, 12) Dabei sollten wir darauf achtgeben: „Augenblick, verweile doch, du bist so schön!" An dieser Sehnsucht des Herzens packt Mephistopheles den Faust und verführt ihn dazu, ihm seine Seele zu verkaufen. Ebenso Petrus, Johannes und Jakobus. Sie bauen feste Häuser und verpassen das Entscheidende, das Ostern der Verklärung. Das Wasser der Taufe, der Atem des Heiligen Geistes, Wein und Brot im Abendmahl: alle diese Elemente im Herzen des Glaubens, für den diese Kirche steht, sie sind allesamt Fluide, in aller Konkretion und erfrischenden Lebensdienlichkeit nicht zu greifen, weil sie uns ihr Leben in Verwandlung einstiften. Das Brot und alle Nahrung muss vergehen, um uns zu stärken und unseren Körper auszubauen. Wir zerstören, was wir zu fixieren suchen.

 

„war es genug? / ist es genug!" Nein, nicht bloß, weil so viel noch zu tun wäre, sondern auch im Eingeständnis der eigenen Versäumnisse, Fehler Enttäuschungen gegen ich und von mir bei anderen. Und doch auch JA, wenn wir der Güte Gottes gegen uns und anderen vertrauen, und wenn ich „Genug!" nicht als „Jetzt reicht es aber auch mal!" höre, sondern als Ausdruck von Fülle: Die Fülle an Begleitung, die Vielen auf dem Weg, durch die erst so viel möglich war. Ich nenne keine Namen außer die Euren unserer Familie, liebe Sunniva, liebe Muriel, liebe Tali, lieber Moritz, und blicke zugleich auf Sie und Euch alle, die heute hier sind oder die von Ferne zuschauen, und auch die, die gerne gekommen wären, aber es war nicht möglich. Dann bekommt das Wort einen neuen Klang.

 

„war es genug? / ist es genug!" Nein, natürlich nicht, spricht unser Gott, und doch JA: „Lass Dir an mir genüge haben und sorge dich nicht: Ich decke Dir einen Tisch im Angesicht deiner Feinde – und diese Feinde können auch jene Gedanken sein, die uns einträufeln und mit dem Wissen quälen, es sei nie genug gewesen und wird nie genug sein." Gegen solch quälende Zweifel steht uns das Gebet zur Seite, die Musik des Psalms 23: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar." Wo das unser Herz erreicht, da hört die Zuversicht im  Aufbruch auf, im Widerspruch zu stehen mit den Tränen das Abschieds. Zitternd wie der Ast, der unter dem Gewicht der Taube schwingt, reichen sich Zuversicht und Wehmut die Hand, wie Geschwister, die einander lieben, auch wenn sie streiten, und in der Gewissheit, dass wir, ob wir bleiben oder aufbrechen, verbunden bleiben unter Gottes Himmel und im Horizont des Himmelszeltes, dass er über uns aufspannt. In alledem hoffe ich und gehe davon aus: wir bleiben verbunden im Ringen um den Glauben, dass das Leben weiterreicht als der Tod, und dass sich dabei aller Einsatz lohnt, ganz gleich, wo wir hingestellt sind, für eine Welt nach dem Maß der Menschlichkeit im Angesicht des Gottes der Mensch wurde um uns seine Verheißung ins Herz zu schreiben.

 

Noch einmal Dietrich Bonhoeffer, den ich in all den Jahren hier in St. Katharinen regelmäßig so gerne zitiert habe: „Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht."

 

Dazu Wolfgang Borchert, der darf heute ebenfalls nicht fehlen: „Stell dich mitten in den Wind, glaub an ihn und sei ein Kind – lass den Sturm in dich hinein und versuche gut zu sein."

 

Schließlich Jesaja, mit dem wir diesen Gottesdienst eröffnet haben: zum Klang des Muschelhorns wie in so vielen Osternächten: „Träufelt, ihr Himmel, von oben, und ihr Wolken, regnet Gerechtigkeit! Die Erde tue sich auf und bringe Heil, und Gerechtigkeit wachse mit auf! Ich, der HERR, erschaffe es." (Jes 45, 8 )

 

All dieses soll weiter Raum geifen: Hier in HafenCity, Speicherstadt und Altstadt an der Altstadtküste, in Blankenese an allen Orten dieses wunderbaren blauen Planeten, der sich mit allen, die ihn bewohnen, schmerzlich und immer wieder neu nach diesem Frieden sehnt, der im Neuen Jerusalem wie das Licht, das durch dieses Fenster fällt, zu uns kommen will. Diesen Frieden wollen wir erstreben, um ihn ringen, ihn uns schenken lassen!

 

Darum in Freude oder Schmerz: Danke! Danke an Dich, Sunniva, Muriel, Tali, Moritz, und an Euch alle heute, an alle, die meine Familie und mich begleitet und getragen haben durch Dick und Dünn. Dank an Gott und seine Engel für Herausforderung und Segen und die stetige Erneuerung von Zuversicht in guten und in bösen Tagen. Genug des Redens. Jetzt möchte ich in diesem mit Euch singen: „Vertraut den neuen Wegen, / auf die der Herr Euch weißt. / Und seid dabei leuchtend Gottes Bogen. / Am hohen Himmelsstand."

 

Nochmals: Danke! Amen.

 


Download [PDF]

 

 

Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
Besucherinformationen