Predigt am 02. Mai 2021 – Sonntag Kantate

Hauptpastorin und Pröpstin Dr. Ulrike Murmann

„Wenn Steine schreien…“ Lukas 19, 37-40

 

Liebe Gemeinde!

 

Wenn diese, meine Jünger schweigen sollen, dann werden die Steine schreien, sagt Jesus. Das Loben, das Singen, die Freude über Gottes Wirken, seine Taten und Wunder, sie sind nicht zu stoppen. Es gibt Jubel, Freudenschreie, die kann man nicht aufhalten, liebe Gemeinde, die lassen sich nicht unterdrücken, die wollen raus: Juhu, ich habe mein Abitur bestanden! Oder: Halleluja, wir haben endlich eine Wohnung gefunden. Oder: Er liebt mich! Oder: Ich bin geimpft! Gott sei Dank! Ach, schon die Zusage eines Impftermins löst in meinem Freundeskreis derzeit einen Freudenschrei aus: Endlich bin ich dran! Was fällt Ihnen dazu ein, liebe Gemeinde? Was hat in Ihnen Jubel und Jauchzen, Freudenschreie hervorgerufen? Was hat Sie so erfreut, dass ihre Seele singen musste, wie Paul Gerhard es komponierte:

 

Chor: Du meine Seele, singe, / wohlauf und singe schön / dem, welchem alle Dinge / zu Dienst und Willen stehn. / Ich will den Herren droben / hier preisen auf der Erd; / ich will Ihn herzlich loben, / solang ich leben werd. (EG 302)

 

Der heutige Predigttext erzählt davon, dass die Jünger mit lauter Stimme und in großer Freude anfangen Gott zu loben, für alle Taten, die sie gesehen hatten. Sie sind mit Jesus auf dem Weg nach Jerusalem. Zwei von ihnen hat er vorausgeschickt, um einen Esel zu besorgen. Sie finden ihn, binden ihn los und bringen ihn zu ihm. Danach legen sie ihre Kleider auf den Eselsrücken. Jesus steigt auf und reitet so nach Jerusalem. Die Nachricht von seiner Ankunft hat viele Menschen hergelockt. Sie stehen am Wegesrand und jubeln ihm zu. Sie breiten ihre Kleider vor ihm aus, wie zu Ehren eines Königs. In der Nähe des Ölbergs beginnen die Jünger vor Freude über den Einzug ihres Herrn zu singen: Gelobt sei, der da kommt. Der König, im Namen des Herrn. Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Es sind Lobgesänge für einen großen König.

 

Vielleicht singen sie ausgelassen, vielleicht euphorisch, vor allem sehr laut, also aus voller Kehle, aus vollem Herzen, so wie wir bei guter Laune, auf Festen oder Konzerten, oder im Stadion, mit den anderen zehntausenden Fans, wenn dein Club gewinnt und alle zusammen die Fan-Hymne schmettern :-), oder beim Ständchen zum Geburtstag: „wie schön, dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst“, oder aber hier im Gottesdienst: Du meine Seele singe!

 

Kantate! Zum zweiten Mal feiern wir diesen Sonntag, ohne dass wir, „das normale Fußvolk“ in der Kirche singen dürfen, nicht mal leise, nein gar nicht. Summen hinter einer Maske, damit bloß nichts aus unserem Munde kommt. Die Ansteckungsgefahr wäre zu groß. Wir unterdrücken, was uns bewegt, was in uns klingt, was in uns tönt. Das ist kaum auszuhalten, eigentlich unerträglich. Ich schleiche mich gelegentlich allein in diese Kirche, liebe Gemeinde, stelle mich hier in den Altarraum und singe ein „Kyrie Eleison, Herr erbarme dich, erbarme dich unser“. Eine Katastrophe - dieses Virus, eine Krise - diese Pandemie. So viel Leiden, so viele Tote! Eigentlich, liebe Gemeinde, ist uns auch gar nicht zum Loben zumute, sondern viel eher zum Klagen. Zur Totenklage über die Menschen, die wir verloren haben. Zu Klageliedern über die Schmerzen der Erkrankten und um ihr Leben Ringenden. Über die Trauer der Angehörigen. Über die Belastungen der Ärztinnen und Pfleger. Über das Unglück in Israel, wo zigtausende Gläubige in dieser Woche zu einem religiösen Fest zusammenkamen, um gemeinsam zu feiern, zu tanzen und zu singen – es endete in einer Tragödie mit vielen Toten. Nein, uns ist gar nicht mehr zum Singen zumute. Was für ein neues Lied sollten wir dem Herrn singen in Zeiten wie diesen? Vielleicht ein Trotzlied? Ein Hoffnungslied? Ein Sehnsuchtslied?

 

Chor: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Heilsein, um Ganzsein, um Zukunft bitten wir. In Krankheit. In Tod, sei da sei uns nahe Gott. (HELM 142,3)

 

Wenn diese schweigen, dann werden die Steine schreien, antwortet Jesus den Pharisäern, als sie ihn auffordern, die Lob-Gesänge seiner Anhänger zu unterbinden. Dann werden die Steine schreien.

 

Wenn die Dresdner Frauenkirche bei dem Klang der Friedensglocke freitags um 12 Uhr zum Versöhnungsgebet von Coventry einlädt, dann beginnt die Liturgie mit diesen Worten: Wenn die Steine schreien, was lassen sie uns hören? Sie erinnern an die Zerstörung durch Bomben im 2. Weltkrieg. Sie mahnen zum Frieden und zur Versöhnung. Sie münden in das Gebet „Vater vergib“!

 

Auch St. Katharinen gehört zur weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry, denn auch diese Steine haben geschrien im Juli 1943, als diese Kirche 10 Tage lang brannte. Man kann die Spuren der Zerstörung noch heute sehen und hören. Es sind Schreie um Hilfe, um Gnade, um Frieden, um Hoffnung. Sie sind nicht klein zu kriegen, so wie man den Klang des Lebens nicht ersticken kann. Er tönt aus diesen mittelalterlichen Mauern, diesen prächtigen, aber schief stehenden Pfeilern, aus Mauerrissen und Gewölben, aus den Grabsteinen und Epitaphen. Der Klang des Lebens und der Auferstehung, des Pfingstwunders, er klingt aus dem Altar mit seinen Hoffnungsbildern und aus dem Gloriafenster mit den musizierenden Engeln und dem himmlischen Jerusalem, und natürlich von den wunderschönen Orgeln und heute wieder in den Stimmen der Kantorei. In diesem Raum schwingt der Klang von den Generationen vor uns, die hier geklagt und gelobt, geweint und getanzt, geschwiegen und gesungen haben. Die Steine haben allen zugehört und geben Resonanz. Sie sind nicht zum Schweigen zu bringen. Wenn wir schweigen, werden diese Steine schreien. Sie werden keine Ruhe geben, so wie ein unglückliches Kind, dem man nicht zuhört, schreien kann, dass die Wände wackeln.

 

Die Steine erzählen nicht nur vom Weinen, sondern auch vom Lachen der Kinder, sie kennen die Träume unserer Jugend von einer besseren Welt, die Worte der Brautpaare, die Gott für ihre Liebe danken, die Stimmen der Älteren unter uns, die auf ihr Leben mit Traurigkeit und Dankbarkeit zurückblicken und beides vor Gott bringen. Es gibt Empfindungen, die gehen so tief, die sind so existentiell, die kann nichts und niemand zum Schweigen bringen.

 

Das ist der Anfang aller Religion, denn diese Stimmungen und Stimmen weisen über uns selbst hinaus. Sie münden in Gesänge und Gebete, sie münden in einen Glauben, der unserer Sehnsucht nach Heilsein und Ganzsein, nach einer friedlichen Zukunft Ausdruck gibt. Niemand nimmt diese Sehnsucht so ernst, so wahr und sich so zu Herzen wie dieser Jesus auf dem Esel. Ein eindrückliches Bild stellt Jesu Einzug in Jerusalem dar. Er ahnt, dass die Jubelschreie der Menge bald umkippen werden in Hassbotschaften und Rufen, ihn zu töten. Und er weiß auch, dass niemand auf Erden den Klang des Lebens in ihm ersticken kann. Beides bringt er vor seinen Gott: Seine Klage über die Welt und seine Hoffnung für diese Welt. Beides gehört zu diesem Sonntag Kantate: Klagen und Hoffen oder Klagen und Loben, oder wie es im Prediger heißt: Klagen und Tanzen. Beides gehört zu unserem Leben, beides macht uns reich. Und lässt uns singen oder zumindest summen:

 

Chor: Ich sing dir mein Lied – in ihm klingt mein Leben. Die Töne, den Klang hast du mir gegeben von Zeichen der Hoffnung auf steinigen Wegen, du Zukunft des Lebens. Dir sing ich mein Lied. (HELM 107,5).

 

Amen.

 

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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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