„Die 10 Gebote – Wegweiser der Freiheit“ (2. Mose 20, 1–17)
Liebe Gemeinde,
in einer Fernsehsendung wurden junge Leute einmal gefragt, welche der zehn Gebote ihnen wichtig seien. Die häufigste Antwort war: „Du sollst nicht töten“. Und dann: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“. Später wurden sie gefragt, was sie hinzufügen würden, wenn sie ein 11. Gebot formulieren dürften: „Du sollst die Kinder achten“, antworteten sie. Und: „Du sollst die Umwelt für deine Nachkommen bewahren“. Liebe Gemeinde, welches wäre Ihr 11. Gebot? Haben sie darüber schonmal nachgedacht? Vielleicht: „Du sollst deine Lebenszeit nicht nutzlos verbringen“, wie die Philosophin Thea Dorn meinte? Oder etwas humorvoller: „Du sollst dich nicht erwischen lassen?“ (nach W. Huber, „Darauf vertraue ich“, S.99)
Auch wenn viele Menschen die 10 Gebote heute nicht mehr genau kennen oder aufzählen können, gehören sie wahrscheinlich immer noch zu den zentralen und markantesten Texten der jüdischen und der christlichen Tradition. Und sie rufen bis heute nicht nur Respekt hervor, sondern natürlich auch Spott, wie in diesem Witz:
Als Mose vom Berg Sinai wieder herunterkommt, scharen sich die Männer und Frauen des Volkes Israel um ihn und fragen: Was hat er gesagt? Erzähl schon! Was hat Gott dir geboten? „Also Leute“, antwortet Mose, „es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche wollt ihr zuerst hören?“ Die gute! „Ich habe ihn runtergehandelt, auf 10 Gebote habe ich ihn runtergehandelt.“ Und die schlechte? „Ehebruch ist immer noch dabei …“.
Ja, was bedeutet dieses 6. Gebot in einer Zeit, in der statistisch gesehen in Deutschland jede 3. Ehe zerbricht bzw. geschieden wird? Ehebruchverbot diente damals dem Schutz der Nachkommen und deren materieller und sozialer Stellung. Dieser Schutz wird heute anders geregelt, dennoch braucht eine gelingende Beziehung Vertrauen und Verlässlichkeit. Und wie verhält es sich mit dem 5. Gebot „Du sollst nicht töten“, wie streng ist es gemeint? Welche Bedeutung, welche Geltung haben die 10 Gebote heute noch? Welchen Wert haben sie für unsere Gesellschaft? Brauchen wir sie noch?
Es wird Sie nicht wirklich wundern, liebe Gemeinde, aber nach meiner Meinung sind sie das Fundament unserer freien Gesellschaft, Bedingung eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens unterschiedlicher Menschen und Völker. Sie sind Regeln für ein gutes Leben oder wie Alt-Bischof Huber es formuliert „Wegweiser der Freiheit“. Es ist falsch, wenn man sie nur als Verbote versteht, als Sätze, die nur beschreiben, was man alles nicht darf. Das Hebräische könnte man auch übersetzen mit den Worten „Du wirst nicht töten, … nicht ehebrechen, nicht stehlen und nicht falsch Zeugnis reden,“, ich füge hinzu, „wenn du deinen Gott liebst“. Ich deute die 10 Gebote eher als An-Gebote für ein Leben mit anderen, für ein Leben in Freiheit. Meine Freiheit nämlich ist nicht grenzenlos, sondern sie endet da, wo die Freiheit des anderen beginnt. Ein Leben in Gemeinschaft gelingt nur, wenn wir die Begrenztheit unserer Freiheit akzeptieren, wenn wir Gebote und allgemeinen Regeln des Zusammenlebens achten, und darauf vertrauen können, dass andere dies auch tun.
Ein ganz einfaches Beispiel aus dem Straßenverkehr: Ich verlasse mich darauf, dass der Fahrer vor mir nicht willkürlich ausschert, wenn ich ihn überhole, dass die Regel rechts vor links für alle gilt und eine grüne Ampel mir eine freie Fahrbahn sichert. Regeln geben Sicherheit, und ohne sie steige ich nichts ins Auto oder aufs Fahrrad. Ein Kollege, der lange in Italien gelebt hatte, sah das etwas anders: Die Italiener würden zumindest im Straßenverkehr das Chaos brauchen, um sicher fahren zu können. Naja. Ist wahrscheinlich eine Frage des Temperaments …
Zurück zum Text aus dem 2. Buch Mose, der ja gar nicht mit einem „Du sollst“ beginnt, sondern mit einem „Ich bin“. „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus der Knechtschaft in Ägypten geführt hat“. In diesem Urdokument unseres Glaubens gibt Gott sich als ein Befreier, ein Retter zu erkennen, als einer, der Menschen in die Freiheit führt. Immer wieder betont die Bibel diese Zusage: Als freie Menschen sind wir geschaffen, und zur Freiheit hat uns Christus befreit. Damit dieses Leben in Freiheit gelingt, gibt Gott uns diese Gebote wie eine Richtschnur, ein Geländer, eine Orientierung. Und das brauchen wir gerade in dieser Zeit, in der die Möglichkeiten und der Radius unseres Handelns so groß geworden sind und die Herausforderungen in der Ethik so komplex: Denken sie nur an die politischen Debatten um den Schwangerschaftsabbruch oder die aktive Sterbehilfe, ganz aktuell um Waffenlieferungen an die Ukraine zum Zweck der Selbstverteidigung aber auch des Tötens … Ursprünglich bezog sich dieses 5. Gebot übrigens nicht aufs Töten im Allgemeinen, sondern auf den Mordfall im Besonderen. Heute regt es uns zu differenzierten ethischen Überlegungen an – und das ist gut so.
Wie wir die Gebote verstehen und anwenden, hängt für mich entscheidend davon ab, ob wir sie als Wegweiser Gottes für uns verstehen. Die ersten drei der zehn Gebote beziehen sich nämlich auf Gott, neben dem wir keine anderen Götter haben sollen, dessen Namen wir nicht missbrauchen sollen und der uns einen Feiertag gegeben hat, wie den heutigen, damit wir innehalten und seiner gedenken. Bei allen ethischen Entscheidungen, die wir tagein und tagaus treffen müssen, ist diese Orientierung eine wirklich große Hilfe: Fragen wir uns, was Gottes Wille ist, dann finden wir den Weg zu einem guten und gerechten Leben, zu Frieden und Versöhnung. Jesus hat diese Richtschnur später so zusammengefasst. Als er gefragt wurde, welches denn das höchste der Gebote sei, antwortete er: Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Auf Gott hören, aufeinander achten und sich selbst als Teil einer Gemeinschaft wahrnehmen! Das sind die drei Schritte auf dem Weg zu einem Leben in Freiheit, Würde und Verantwortung.
Natürlich ist das ein hoher Anspruch, und natürlich werden wir dem nie gerecht. Aber ist er nicht dennoch richtig? Und sollten wir das als Christen nicht mutiger und selbstbewusster vertreten? Die Gebote vermitteln unverzichtbare Werte für unser Zusammenleben und sind sie eingegangen in die Formulierung der Grund- und Menschenrechte. Sie einzuhalten sollte daher unser aller Ziel und Anspruch sein. Der Theologe Fulbert Steffensky hat es einmal so formuliert: „Ein Gebot ist eine Weisung, bei der es kein Verlierer gibt, wenn sie eingehalten wird.“ Das motiviert, das ermutigt und bestärkt, Christen und Nichtchristen, Fromme und Unfromme, Reiche und Arme, Große und Kleine.
Für die jüdische und die christliche Religion ist dieser Text die Stiftungsurkunde des Bundes Gottes mit den Menschen auf dem Weg durch die Wüste. Hier wendet sich Gott uns zu, weist uns den Weg, wie ein Leben in Freiheit gelingen kann. Machen wir es uns zu eigen und machen wir uns auf den Weg. Er geht mit. Amen.
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