Abend und Morgen sind Seine Sorgen – mit Paul Gerhardt unterwegs (EKG 449)
Impulse zu Paul Gerhardt
Die güldne Sonne voll Freud und Wonne – wir könnten es als ein Lob der Schöpfung singen: Mein Auge schauet, was Gott gebauet zu seinen Ehren und uns zu lehren, wie sein Vermögen sei mächtig und groß. Vom Schöpfer ist bei Paul Gerhardt ganz selbstverständlich die Rede. Aber es geht ihm um mehr:
Abend und Morgen sind Seine Sorgen – das ist nicht nur der Rhythmus, in den unser Lebensalltag heilvoll eingebettet ist. Abend und Morgen, das ist etwas – Sorgen haben wir genug – um das wir uns keine Sorgen zu machen brauchen, weil es Gottes Sorge ist. Genauso wie segnen und mehren, Unglück verwehren – auch dies, so Gerhardt, sind Seine Werke und Taten allein.
Was Paul Gerhardt hier macht, will ich Vertrauensdichtung nennen. Verschiedene Tatbestände schiebt er so zusammen, dass daraus eine Reihe von Vertrauenssätzen wird. Wenn wir uns legen, so ist er zugegen. Das Vertrauen der vorigen Sätze färbt sozusagen darauf ab und macht den Inhalt zusätzlich gewiss.
Und mit dem letzten Glied in dieser Strophe kehrt er zum Anfang Abend und Morgen und zugleich zur güldnen Sonne, dem Anfang des Liedes, zurück. Diese Rückkehr geschieht sozusagen vertrauensbasiert, aber nun mit einem neuen Impetus, dem Impetus der Auferstehung. Die Sonne ist nicht nur Gegenstand der Betrachtung in Gottes Schöpfung. Sie steht vielmehr für Gottes Barmherzigkeit, für Christus, für die Auferstehung, die über seine Schöpfung hinausgeht und uns, was auch immer sein mag, aufstehen lässt.
Paul Gerhardts Lied von der güldnen Sonne ist kein Schöpfungslied, es ist ein Auferstehungslied: aber nun steh ich, bin munter und fröhlich. Es freut sich nicht nur der Schöpfung, es rechnet auch mit Laster und Schande, mit Neid und Geiz des Menschen, mit Sünde und Tod. Und es setzt den tödlichen Schmerzen sein Heil und Gnaden entgegen. Kreuz und Elende, das nimmt ein Ende; nach Meeresbrausen und Windessausen leuchtet der Sonnen gewünschtes Gesicht. Sie wärmt nicht nur, sondern ist Ausdruck von Gottes Barmherzigkeit.
Zu reinem Schöpfungsgesang, Lob der schönen Natur, hat Paul Gerhardt, 1607 in Gräfenhainichen im heutigen Landkreis Wittenberg in Sachsen-Anhalt geboren, auch kaum Anlass gehabt. Von 1618 bis 1648 hat der 30jährige Krieg in deutschen Landen gewütet. In immer neuen Fronten wurde mit Tod und Zerstörung überzogen, was vorher Heimat und Geborgenheit gab. Familiär wie politisch ist Paul Gerhardts Leben von Katastrophen gekennzeichnet. Nur eins seiner fünf Kinder überlebt ihn. Es grassiert die Pest. Gräfenhainichen wird dem Erdboden gleichgemacht. Und auch, was ihm Halt gab, seine klare lutherische Theologie wird ihm am Ende durch das reformiert geprägte Toleranzedikt von Kurfürst Friedrich Wilhelm streitig gemacht. Paul Gerhardt ist Hauslehrer und dann Pfarrer, sogar mal Propst gewesen. Ungefähr 130 Lieder hat er gedichtet. 27 davon stehen in unserm Gesangbuch.
Was Paul Gerhardts Vertrauensdichtung so rund macht – Sie haben’s vielleicht schon bemerkt – ist, dass eine Sache häufig durch zwei Worte oder zwei Satzglieder ausgedrückt wird. Genau wie in den Psalmen in der Bibel: Himmel und Erde, das meint eben den ganzen Schöpfungsraum. Durch solch ein Hendiadyoin gewinnt das Gesagte an Ausdruckskraft; die beiden Glieder verstärken sich: Freude und Wonne, munter und fröhlich, Weihrauch und Widder. Solch Ganzheit kommt, noch dazu wenn es sich reimt, der Gewissheit zugute.
Paul Gerhardt ist so aus einer Haltung des Dennoch zum Dichter neuen Vertrauens geworden. Dennoch bleibe ich stets an dir. Einer durch Krieg und Zerstörung verwüsteten Seelenlandschaft hat er geholfen, den Blick neu auf Gott und seine Gnade auszurichten und daraus die entscheidende Lebensenergie zu ziehen. Die güldne Sonne voll Freud und Wonne als Gewissheit und Kraft der Auferstehung, die unser tägliches Leben-Können bestimmt.
Predigt
Liebe Gemeinde, das kommt wirklich selten vor: Da hab ich zu diesem Lieder-Gottesdienst mit Paul Gerhardts Die güldne Sonne voll Freud und Wonne die „Frau in der Morgensonne“ von Caspar David Friedrich ausgesucht – könnte es ein passenderes Bild geben? Und dann erscheint am Donnerstag die ZEIT mit genau demselben Bild auf der Titelseite! Was für eine Koinzidenz! Offenbar liegt soetwas in der Luft. „Sehnsucht nach Trost“ titelt die ZEIT.
Und in dem Text von Florian Illies heißt es: Caspar David Friedrichs „Gemälde erzählen nicht nur vom Verlorengegangenen, sondern zugleich von der Gegenkraft der Kunst, von den Nebeln und Himmeln, die trösten können über die Schrecken der Erde. Und wann“, so Illies weiter, „könnte man das mehr brauchen als jetzt, angesichts all der Bilder voller Leid und Unheil aus dem Nahen Osten und der Ukraine, die kaum zu ertragen sind.“
„Sehnsucht nach Trost“ – genau das muss Paul Gerhardt zu seiner Zeit umgetrieben haben, als er 1666 Die güldne Sonne voll Freud und Wonne dichtete. Nach soviel verheerender Kriegszerstörung, soviel sinnlosem Leid und Tod, soviel Seelenqual stehen nicht Klugheit und Pläne vornean. Vielmehr ist allenthalben Sehnsucht da, Sehnsucht nach einem gewissen Trost. Ohne ihn ist Neues nicht zu beginnen.
Weil die Lage nicht bereithält, was Mut macht, ist Kraft von anderwoher nötig. Es braucht tieferes Vertrauen. Genau das weiß Paul Gerhardt in Worte, in Verse zu fassen. Wir haben schon gesehen, mit welchen Mitteln. So galant tut er das, dass sein Text zu schwingen beginnt und im Dreivierteltakt, fast tänzerisch zu singen ist: Abend und Morgen sind seine Sorgen; segnen und mehren, Unglück verwehren sind seine Werke und Taten allein. Wenn wir uns legen, so ist er zugegen; wenn wir aufstehen, so lässt er aufgehen über uns seiner Barmherzigkeit Schein.
Um mit verstörenden Traumatisierungen umzugehen, ist Paul Gerhardts Lied genau das richtige: Abend und Morgen – darauf kannst du dich verlassen. In diesem Lebensrhythmus bist du aufgehoben. Ihn lass Gottes Sorge sein. Wenn wir uns legen, so ist er zugegen. Du gehst nicht verloren – im Gegenteil: Gott ist es, der dich aufstehen lässt. Wenn wir aufstehen, so lässt er aufgehen über uns seiner Barmherzigkeit Schein.
Das kann trösten. Und weit mehr als Trost ist das. Täglich zu erfahrender Beistand ist das. Und ganz nebenbei: ein Antidepressivum auch. Denn Lebensenergie – die müssen wir nicht machen. Wenn wir mit Gott mitschwingen und uns auf seinen heilvollen Lebensrhythmus einlassen, dann ist sie einfach da.
Ob das für uns heute, gut 350 Jahre später, noch genauso erschwinglich und überzeugend ist? Kann Paul Gerhardts festgefügte Welt Gehäuse unseres heutigen Vertrauens und Glaubens sein? Vielleicht möchten wir das glauben, aber vermögen wir das: Alles vergehet, Gott aber stehet ohn alles Wanken? Können wir weiter so ungebrochen von Gottes Allmacht singen wie Paul Gerhardt, in dessen Welt alles Leid seinen von Gott gegebenen Ort zu haben scheint? Haben sein Heil und Gnaden in all der Gewalt und monströsen Menschenverachtung des 20. und 21. Jahrhunderts nicht viel zu sehr Schaden genommen, als dass sie uns weiterhin zeitlich und ewig gesund halten könnten?
Spätestens am Ende jedes Liedes findet Paul Gerhardt zu dem hin, was ihm seines Vertrauens entscheidender Grund ist: zum Leben bei Gott. Mein Heimat ist dort droben, da aller Engel Schar den großen Herrscher loben, der alles ganz und gar in seinen Händen träget und für und für erhält, auch alles hebt und leget, wie es ihm wohlgefällt.
Mein Eindruck ist: Diesseitiger und zweifelnder ist unser Glauben geworden. Und was einmal die protestantische Mitte war: die Rettung aus Sünde und Schuld durch Christus, der für uns gestorben ist, das kann sich so unumwunden kaum jemand mehr so recht glaubenstragend vorstellen. Mit der Welt des Glaubens tragen wir uns erheblich schwerer als Paul Gerhardt. Was er besingt, ist zwar nicht einfach weg, aber es ist uns brüchiger geworden. Nicht der Allmächtige, der demütige Gott ist es, der mit uns unterwegs ist.
Es ist nicht die Fülle von Glaubensgegenständen, die uns glauben macht. Paul Gerhardt mochte noch in unendlich vielen Strophen den Reichtum der Taten Gottes besingen. Aber der innere Kern, der entscheidende Antrieb war wohl auch ihm – genau wie uns – aus einer starken Sehnsucht heraus das Dennoch des Glaubens. Ich lasse dich nicht, Gott, du segnest mich denn!
Dieses beharrliche Anklopfen bei Gott wendet sich ihm immer wieder neu in Melodien des Vertrauens. Es ist, als ob die Motive des Vertrauens sich von selbst einspielen. Und was sich dann dichterisch eröffnet, sind unglaublich schöne, zarte, anregende Bilder für das Zueinander von Gott und Mensch, auch für uns in unserer glaubensmäßig so bilderarmen Zeit.
So kehren wir schließlich, mit der güldnen Sonne voll Freud und Wonne im Sinn noch einmal zur Sonne zurück: Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne, dichtet Paul Gerhardt. Wir denken an Caspar David Friedrichs Bild und singen: Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen … O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein armes Meer, dass ich dich möchte fassen!
Amen.
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