„Gott gib uns ein Herz für Dein Wort und ein Wort für unser Herz. Amen.“
Ihr Lieben,
Vielleicht habt ihr euch beim Hören vorhin kurz geärgert über den heutigen Predigttext. Ich auf jeden Fall, aber Ärgern ist auch gut, denn dabei entsteht Reibungsenergie. Ich lese ihn euch noch mal vor:
12 Liebe Kinder, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen. 13 Ich schreibe euch Vätern; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich schreibe euch jungen Männern; denn ihr habt den Bösen überwunden. 14 Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr habt den Vater erkannt. Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Ich habe euch jungen Männern geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen überwunden.“
Ich hab mich geärgert, denn als Allererstes fiel mir auf, dass es hier zwar um Vergebung geht – allerdings nur für Männer. Frauen kommen hier gar nicht vor – und das ist eben, sagen wir mal, „ärgerlich“.
Das zentrale Thema des Ersten Johannesbriefes ist die Vergebung.
Dass der Verfasser hier nur Männer anspricht, ist – wie einiges andere auch – vermutlich primär seiner Zeit geschuldet – damals war das eben so – aber heute ist das eben nicht mehr so und deswegen hat mich mein Mich-darüber-Ärgern auch gezwungen, noch mal hinzugucken. Und das war gut. Denn natürlich geht es hier nicht darum, dass Frauen keine Vergebung erhalten. Natürlich nicht!
Ich glaube, dass es hier um drei prägnante Zeitstufen geht, durch die uns deutlich gemacht werden soll, dass uns – um Jesu Namen Willen – Vergebung geschenkt ist. Allumfassend und multidimensional.
Der Verfasser spricht von den Kindern, den jungen Männern und den Vätern. Die drei wichtigen Phasen unseres Lebens. Und unser Glaube wächst, verwächst und verändert sich durch diese drei prägenden und prägnanten Phasen.
Von der ersten Phase, dem wunderbaren Kinderglauben, den wir häufig – möchtegernerwachsen und pseudoaufgeklärt – irgendwie belächeln. Dabei ist er der schönste, freiste, mutigste und liebevollste Glaube, den es nur gibt. Wenn unser Vertrauen in Gott unerschütterlich ist. Unsere Liebe zu und Freude für überschäumend ist. Das ist der Glaube, den Jesus meint, wenn er im Evangelium von den Kindern spricht, an denen wir uns orientieren sollen, weil wahrlich diesen das Himmelreich gehört.
Ich habe euch Kindern geschrieben; denn ihr habt den Vater erkannt. schreibt Johannes
Die zweite Phase, die er nennt, betrifft die jungen Männer. Ihr wisst schon: Pubertät und Adoleszenz. Wir erinnern uns vermutlich alle noch: Jugendlich sein. Zwischen Konfirmandenunterricht und der elternfreien Zone im eigenen Zimmer mit guten Freunden, manch verkappter Flamme und vermeintlichen Feinden.
Und mit all den Kämpfen, die man in alle Richtungen austragen musste. Kämpfe um Eigenständigkeit und gegen die vernichtenden Urteile anderer. Empörung über die Ungerechtigkeit der Welt und der Kampf mit dem eigenen Glauben, der manchmal Schild vor Angriffen anderer und manchmal auch Schwert gegen sie war.
Und in den merkwürdigen Wirrungen der sich neu vernetzenden Neuronen im Hirn hat man wiederum den eigenen Glauben selbst angegriffen, weil er eben keine zufriedenstellende Antwort auf unsere Fragen gab. Weil Gebete nicht erhört und manche Hoffnungen enttäuscht wurden.
Weil Gott immer im Stillen, Leisen und Unscheinbaren zu finden sein sollte und man ihn lieber mächtig und groß, kräftig und überwältigend gehabt hätte.
Deswegen hat man den eigenen Glauben in Scherben liegen lassen, resigniert beiseite gekehrt und manchmal gedacht, dass das ja alles eh nicht wissenschaftlich valide sei.
Aber: Es war immer etwas da. Und wenn es nur Scherben waren.
Ich habe euch jungen Männern geschrieben; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen überwunden.“
Sagt Johannes.
Die dritte Phase benennt er hier als die der „Väter“. Das ist die, in der wir schon viel gelernt, Verantwortung übernommen, Enttäuschungen ertragen und be- und verarbeitet haben. In der wir Liebe erfahren und verloren haben, um die Scham der Jugend und den Charme der Leichtigkeit der Kindheit wissen. In der Gott über und durch die vermeintlichen Scherben unserer Lebensgeschichte wabert. Und auch die Phase, in der wir älter und dadurch gleichzeitig mehr und weniger werden.
Ich habe euch Vätern geschrieben; denn ihr habt den erkannt, der von Anfang an ist. Sagt Johannes.
Ihr Lieben,
Vergebung ist ein Prozess. Eine Lebensaufgabe. Ihre Wahrnehmung, ihr Annehmen-Können, ihr „Selbst-Schenken-Können“ verändert sich durch unser Leben. Immer im Kontext der Tatsache, dass uns selbst vergeben ist.
Drei kurze Assoziationen zu den Zeitstufen, die ich eben skizziert habe und die ja für die multidimensionalen Aspekte von Glauben und Versöhnung stehen und ja vielleicht Korrespondenz mit den hier aufgezeigten Altersstufen haben, möchte ich mit Euch teilen:
1. „Bei mir bist du shein!“
Vielleicht kennt ihr diesen Song, der vor allem durch die Andrew Sisters zum Welthit wurde und ursprünglich mal für ein jiddisches Musical geschrieben war.
Bei mir bist du schoen […] “means you’re the fairest in the land” (deutsch: „du bist der/die Schönste im ganzen Land“). Und weiter heißt es Bei mir bist du schoen “means that you’re grand” (deutsch: „du bist großartig“).
Das ist der Blick, den wir als Kinder haben und gleichzeitig spüren können. Als Kinder wächst unser Vertrauen ins Leben, weil wir selbst wachsen, während wir spüren, wie bedingungslos liebevoll wir von unseren Eltern angesehen werden. Wie schön wir sind. Und wie unverstellt wir selbst andere und anderes sehen.
Ich glaube, Vergebung kann nur beginnen, wenn wir die Schönheit ineinander und uns selbst finden. Denn sich liebevoll und begeisternd anzusehen, ohne be- und verurteilt zu werden, ist genau der Blick, den Kinder haben. Vergebung beginnt, wenn wir uns wie diese Kinder angucken. „Bei mir bist du shein!“
2. Katzen!
Ich hatte ja kurz gesagt, dass wir in der eigenen Pubertät und Adoleszenz immer wieder dazu neigen, Glauben und Wissenschaft einander gegenüberzustellen und Ersteres im selben Impetus abwerten. Beim Nachdenken über die Phase der jungen Männer fiel mir ein, dass ich mal eine wissenschaftliche Studie über „Vergebung“ gelesen habe. Vermutlich genau das, was ich mir gewünscht hätte, als ich selbst in dieser Phase war. Sie war überschrieben mit dem Titel: How forgiveness makes you healthier, who needs it most, and which offenses are hardest to get over. Also “Wie Vergebung uns gesünder macht, wer sie am meisten braucht und über welche Verletzungen man am schwersten hinwegkommt.“ Das ist eine spannende und unterhaltsame Lektüre, die in die Phase der „jungen Männer“ ganz besonders passt, weil Vergebung immer den Aspekt des Entschuldigens einschließt. Schuld los werden. Das wird gerade in der Phase, in der sich unser Gehirn neu verbindet und unsere Körper eh machen, was sie wollen, noch mal besonders wichtig. Vergebung wird dann noch existenzieller, wenn Schuld und Scham zu zentralen Kompassnadeln unserer Leben werden. Und diese Studie beschäftigt sich mit den heilenden Kräften von Wiedergutmachung und Ent-Schuldigung.
Ein paar kurze Ergebnisse aus der Studie:
- Nicht Verzeihen macht uns das Leben schwer.
- Verrat ist die häufigste Form unverzeihlicher Handlungen, einschließlich Affären, Betrug, gebrochener Versprechen und preisgegebener Geheimnisse.
- Kleine Kinder verzeihen leicht
- Im Gegensatz zu Zehn- und Elfjährigen brauchten Sieben- und Achtjährige in einer Studie keine Entschuldigung, um zu vergeben; Sie neigten dazu, Täter, die sich entschuldigt hatten, und diejenigen, die sich nicht entschuldigt hatten, gleich zu sehen.
- Religiöse Menschen sind nachsichtiger als Nichtreligiöse
- Gott sei Dank!
Und das vielleicht Wichtigste:
- Katzen vergeben niemals
Primaten folgen Konfrontationen oft mit freundlichem Verhalten wie Umarmen oder Küssen. Ähnliches Verhalten wurde bei Nichtprimaten wie Ziegen und Hyänen beobachtet; Die einzige Tierart, die bislang keine äußerlichen Anzeichen einer Versöhnung zeigt, ist die Katze.
Also: Vergebung macht uns leichter, gesünder und glücklicher. Sonst – und das kann ich natürlich wissenschaftlich nicht genau verifizieren – werden wir vermutlich zu Katzen.
3. Kintsugi
In der japanischen Tradition gibt es eine antike Kunst, die Kintsugi heißt. Das ist die Kunst Scherben, also Zerbrochenes, wieder zusammenzusetzen. Aber nicht, wie es bei uns in der westlichen Tradition üblich ist, wenn wir unsere heruntergefallene Lieblingsvase zum „Scherbendoktor“ geben, damit er diese am Ende möglichst so zusammensetzt, dass man nicht mehr sehen kann, dass sie mal kaputt war. Im Gegenteil: Bei Kintsugi werden die Scherben mit einer speziellen Mischung aus Leim und Goldstaub geklebt. Die Risse und Narben bleiben sichtbar. Mehr noch: Erst durch die Brüche entsteht ein Kunstwerk. Das vermeintlich Perfekte und Makellose wird viel strahlender und schöner durch das Verdeutlichen des Unperfekten. Ich glaube, so ist es mit der Zeitstufe der „Väter“, die Johannes hier anspricht. Hin und wieder schaffen wir es, die Scherben unserer eigenen Lebens- und Glaubensgeschichte, die wir immer wieder zusammenkehren, so schön zusammenzusetzen, dass sie mehr sind als unsere Verletzungen und Enttäuschungen, Kränkungen und Brüche. Ich glaube, dass wir selbst Vergebung empfangen und schenken können, wenn wir unsere eigenen Brüche nicht als minderwertig betrachten, sondern als Baukasten zu Neuem. Zu etwas, das viel schöner ist, als wir es eigentlich gedacht hatten. Diese Erfahrung – diese Glaubens- und Lebenserfahrung fangen die Ahnung ein, die wir als Kinder schon hatten: Dass es mehr gibt, als wir in unserer Rationalität und Abgeklärtheit wahrnehmen.
Ihr Lieben,
Dieser Brief ist vieldimensional und gilt unserem ganzen Wesen:
Den Kindern in uns, den Jugendlichen ins uns, den Alten in uns.
Und Johannes wiederholt einen Satz gleich noch einmal, damit wir ihn auf keinen Fall überhören: 14 Ich habe es euch schon geschrieben, ihr Kinder:, ihr Alten, ihr Jugendlichen: Ihr habt Gott schon erkannt. Das Wort Gottes wirkt in euch. Ihr habt den Bösen besiegt.“
Vergebung ist komplex und einfach zugleich. Sie aktualisiert sich – gerade weil sie durch Jesus Christus für uns gesetzt ist. Sie wächst mit uns, verwächst sich in uns. Wir können sie nur schenken, weil sie uns geschenkt ist. Und zu guter Letzt: Vergebung ist ein mimetischer Prozess – sie vermehrt sich, wenn man sie teilt.
Gott sei Dank und Amen.
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