„Siehe, ich verkündige euch große Freude“ (Lk 2, 10)
Liebe Gemeinde,
die tiefsten Wahrheiten kommen oft in Bildern und Erzählungen: Die Weihnachtsgeschichte erzählt von einer Wahrheit, die mich besonders dieses Jahr tief berührt, nämlich die Sehnsucht nach Frieden, nach Frieden auf Erden. Davon singen die Engel im Himmel. Das spiegelt die anrührende Szene im Stall mit dem Kind in der Krippe, den Hirten und knienden drei Königen. Das erhoffen sich die Menschen zu Zeiten des Herodes bis heute im 21. Jahrhundert: Dass Frieden werde unter uns.
Am Heiligen Abend wird diese Sehnsucht neu geweckt, und allein dafür bin ich froh und dankbar. Weihnachten schafft ein starkes emotionales Gegenbild zur Wirklichkeit, die von Kriegen, Konflikten und Spannungen geprägt ist. Diese uralte biblische Friedenssehnsucht ist noch immer mächtig. Sie begegnet uns in den Augen der verängstigten, traumatisierten Kinder in Israel und Gaza, in den erschöpften und traurigen Blicken der Soldaten in den Schützengräben der Ukraine, in den von Hunger gezeichneten flüchtenden Menschen im Sudan. So darf es nicht weitergehen, so muss es auch nicht weitergehen, sagt die Weihnachtsgeschichte. Es könnte ganz anders sein auf Erden, ja es würde anders werden, wenn wir vom Frieden nicht nur träumen, sondern beginnen ihn zu leben, häufiger von ihm reden, ihn beschreiben, ausmalen, denken und als echte Option in den Blick nehmen.
Ich war in diesem Jahr mit einer Gruppe aus den fünf Hamburger Hauptkirchen in Coventry in England und habe die dortige Friedens- und Versöhnungsarbeit kennengelernt. Die deutsche Luftwaffe hatte die Kathedrale von Coventry im November 1940 durch Bomben bis auf die Grundmauern zerstört und schreckliches Leid über die Menschen gebracht. Heute sind die Ruinen der alten Kathedrale ein Mahnmal für den Frieden ähnlich dem St. Nikolai-Turm am Hopfenmarkt. Was ich Ihnen erzählen möchte: Schon sechs Wochen nach dieser verheerenden Katastrophe hat der damalige Dompropst von Coventry in einer weltweit ausgestrahlten Weihnachtsansprache auf BBC nicht zur Vergeltung aufgerufen, sondern die Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung in Worte gefasst. Er sagte sinngemäß und das hat mich sehr beeindruckt: Wir müssen den Feind besiegen, aber wir sollten auch an die Zeit danach denken, wenn wir einander wieder die Hände reichen.
In Coventry wird heute für die Menschen auf beiden Seiten der Kriege gebetet, für die Ukrainer und die Russen, die Israelis und die Palästinenser.
Diese Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung findet für mich ihren stärksten Ausdruck in der weihnachtlichen Botschaft: Gott schickt uns seinen Sohn, damit er Frieden bringe der Welt und unseren Herzen. Dieses Kind Gottes wird nicht in einem Palast geboren, umgeben von Höflingen und Sicherheitskräften, sondern er kommt in einem Stall auf die Welt, umgeben von Hirten und Engeln. Er kommt nicht wie ein König, hoch zu Ross mit Wagen und Schwert, sondern er zieht auf einem Esel in Jerusalem ein. Er grenzt sich nicht ab, sondern geht auf seine Gegner zu. Er sucht das Gespräch mit Andersdenkenden, mit Ausgegrenzten. Er heilt, tröstet, ermutigt und versöhnt – er bereitet Frieden allen, die ihm zuhören, die sich öffnen, sich einlassen auf den Frieden, der größer ist als alle Vernunft, der zuerst in unseren Herzen reift, der dich versöhnt mit deinen eigenen Brüchen und Ängsten, der dich freispricht von Scham und Schuld, der dich befreit, dich öffnet für andere, auch für andere Meinungen und Haltungen, der auf andere überspringen kann und dazu führen kann, dass Gegner sich die Hände reichen und versöhnen.
Was für eine großartige Verheißung steckt in dieser Geburtslegende: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Lassen wir uns von diesem Kind ein Weihnachtsfest schenken, das diese Zukunftsvision für ein paar Momente wirklich werden lässt, jetzt hier in diesem Gottesdienst, und dann später zuhause, wenn wir als Familie oder mit Freunden zusammenkommen, uns beschenken und beschenken lassen. Uns an eine schön geschmückte Tafel setzen und zusammen essen. Wenn wir zusammen singen und feiern, unsere Kinder mit ihren neuen Sachen spielen, junge Leute später nochmal losziehen, um Freunde zu treffen, und wir Älteren alte Konflikte beilegen und neu anfangen. Wenn man Menschen fragt, wie Forschungsinstitute das machen, dann sind das die größten Wünsche, die Menschen mit dem Weihnachtsfest verbinden, es möge friedlich, fröhlich und harmonisch werden.
Naja, die Soziologen und Psychologen oder einfach nur die Realisten unter uns werden nun sagen: Klappt leider nicht. Gerade an Weihnachten geht das oft schief. Je höher die Erwartungen desto größer die Enttäuschung und desto tiefer der Fall. Wir hatten in diesem Jahr den Soziologen Hartmut Rosa in St. Katharinen zu Gast, der sehr eindrucksvoll darlegen kann, dass sich diese ersehnte friedliche weihnachtliche Stimmung eben nicht per Knopfdruck herstellen lässt, sondern dass sie in gewisser Weise gar nicht machbar, nicht unmittelbar verfügbar ist. Da hat er einen guten Punkt, finde ich. Wir können Gottes friedenstiftende Gegenwart nur erbitten, nicht erwirken. Ob und wie wir seinen Segen und seine Nähe heute spüren werden, bleibt ungewiss. Bei aller berechtigten freudigen Erwartung rate ich daher zu einer gewissen Gelassenheit im Blick auf den Verlauf dieses Abends: Mal sehen, was kommt. Vielleicht wird die Freude über die Geburt des Christkindes in heiterer Fröhlichkeit lebendig. Vielleicht wird es dieses Jahr aber auch etwas stiller oder ernster, oder sogar ein bisschen traurig. Weil Familien getrennt leben, oder weil jemand fehlt, den wir vermissen, weil jemand gestorben ist, der immer mit uns gefeiert hat, oder weil gerade das vergangene Jahr ihnen persönlich viel Leid und viel Kummer gebracht hat. Entscheidend ist, dass unser Weihnachten wahrhaftig wird und nicht aufgesetzt und äußerlich oder überborden inszeniert.
Erinnern einige von Ihnen noch den Weihnachtssketch von Loriot? In diesem Jahr wäre Loriot hundert Jahre alt geworden und aus diesem Anlass sind einige seiner besten Nummern nochmal gezeigt worden, wie Weihnachten bei Hoppenstedt, wo Opa Hoppenstedt mehrfach müffelt: „Früher war mehr Lametta“, also: früher war der Weihnachtsbaum viel prächtiger geschmückt. „Nein, dies Jahr bleibt unser Baum grün“, bekommt er zur Antwort. „Wegen der Umwelt“. Danach tragen alle Hoppenstedts stapelweise Geschenke ins enge Wohnzimmer, man sieht den Baum vor lauter Kartons gar nicht mehr. Endlich wird Enkelsohn Dicki reingerufen und soll ein Gedicht aufsagen. Er zögert zuerst und stottert dann: „Zicke zacke Hühnerkacke …“ Nicht doch das, rufen die Eltern empört, und machen sich lieber über die Geschenke her. Der Abend endet in einem Berg von Geschenkkartons und Geschenkpapier und mit dem Aufbau eines Spielzeugatomkraftwerks, das Opa Hoppenstedt für seinen Enkel gekauft hat und das zu seiner Freude auch mit einem lauten Knall explodiert. Köstlich, wie Loriot unsere vermeintliche Weihnachtsidylle bloßstellt und wirklich nichts mehr von dem eigentlichen Sinn dieses Festes übriglässt.
Mögen Sie von einem solchen Knall verschont bleiben, liebe Gemeinde. Möge der Frieden einkehren in unsere Häuser und Herzen und mit diesem Fest überall auf der Welt neue Kraft entfalten. Amen.
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