Predigt am 6. November 2022 – „Another Love“ Blues Messe

Pastor Frank Engelbrecht

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

„Another Love“ Blues Messe mit Jessy Martens & Band und den Vocal Lights

 


Die Gnade des Vaters, die Liebe unseres Herrn und Bruders Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

 

„Walk a mile in my shoes!“ Geh eine Meile in meinen Schuhen, dass Du mich verstehst. Eine Meile beispielsweise in den Schuhen der Menschen in der Ukraine, die von jetzt auf gleich alles verloren haben. Eben haben sie noch gegessen, getrunken, eingekauft, verkauft, gepflanzt, geerntet, die Wohnung geputzt, Gäste empfangen; mit einem Male gilt das alles nicht mehr, weil Luftangriffe weggefegt haben, was eben noch ihr Zuhause war, wie in der biblischen Geschichte von Sodom und Gomorrah, in der Pech und Schwefel vom Himmel regnen - zum Schrecken Abrahams, der daneben steht und nicht fassen kann, dass die Zerstörung auf Gottes Geheiß geschieht, obwohl er zuvor versucht hat, seinem Gott Gnade vor Recht abzuringen; das Zuhause weggefegt, wie hier in Hamburg, als die Luftangriffen von 1943 weite Teile unserer Stadt und auch diese Kirche an einem strahlenden Sommertag in Flammen aufgehen lassen; dieses Mal auf Geheiß von General Harris, der sich seine Legitimation seinerseits aus der eben zitierten biblischen Stelle holt: Aktion Gomorrah ist der Code-Name für die Angriffe auf Hamburg. General Harris als Exekutive für Gottes Zorn. In diesen gottesbezügen schließt sich ein Kreis zum Krieg in der Ukraine. Denn diesen Krieg führen die russischen Streitkräfte ebenfalls im Namen Gottes. Ihr Patriarch Kyrill hat eigenhändig die Waffen und Kämpfer gesegnet und in Predigt und Gebet dargestellt, dass der Krieg gegen die Ukraine ein Heiliger Krieg ist, Widerspiel vom ewigen Drama im Kampf der Hölle gegen den Himmel. Diesen Kampf, so Kyrill, haben Gott und seine Engel längst gewonnen, jetzt gilt es noch, den Sieg in Gottes Ewigkeit auf die Erde und in die Zeit bringen. In dieser heiligen Mission sind die russischen Soldaten unterwegs und im Leben und Sterben jetzt schon erlöst. Eine böse Version dieses Wortes vom Reiche Gottes, das mitten unter uns ist.


“Walk a Mile in My Shoes”, damit Du verstehst, wie dieser Irrsinn Leben einreißt und zerlegt wie die Häuser und Straßen unserer Städte, oder wie die Infrastruktur, die eben noch Menschen versorgt hat mit dem Alltäglichen: mit Wasser zum Trinken und Duschen und zum Baden der Kinder, mit Strom zum Kochen, Mobiltelefone aufladen oder Kühlschränke betreiben, Bahn fahren oder Haare föhnen, mit Wärme für unsere Wohnungen, Büros, Kitas, Schulen und Universitäten. Kannst Du Dir vorstellen, wie das Selbstverständliche zur Ausnahme wird?

 

„Walk a Mile in My Shoes“, dass wir aneinander dran bleiben und der Faden nicht reißt zwischen denen, deren Leben noch in einigermaßen gewohnten Wegen weiterläuft, und denen, die ihr Leben unter Bedrohung führen, so dass ihr Leben stockt und holpert wie eine Vinyl-Platte mit Sprung.

 

„Walk a Mile in My Shoes!” Und bewege Dich etwa 3000 Meter weiter in Südöstlicher Richtung: in den Iran. Hier gehen seit dem Tode von Masha Amini am 16. September täglich mehr und mehr Menschen auf die Straßen, die Frauen zuerst. Sie fordern ein, was nach der UN-Menschenrechts-Charta ihr selbstverständliches Recht sein sollte: ihr Recht auf ein Leben in Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, mit der Möglichkeit auf Mitbestimmung, Bildung und Würde, unabhängig von Glauben, Geschlecht, Hautfarbe, Alter und Herkunft.

 

“Walk a Mile in My Shoes”, und stell dir vor, wie das ist, wenn Du jeden Tag neu auf die Straße gehst und nicht weißt, ob Du oder meine Freundinnen am Abend wieder zurückkehren und in ihr Bett fallen und Schlaf finden können, oder was passiert, wenn sie des Nachts erneut aus dem Haus zu schleichen und mit Hilfe von Schablonen Graffities in die Hauswände der Stadt zu sprühen, Schriftzüge mit dem Ruf nach Freiheit oder mit den Silhouetten der Gesichter von Masha Amini oder anderer getöteter Frauen. Das ist riskant, schafft aber Öffentlichkeit und bindet Sicherheitskräfte. Denn die müssen am nächsten Tag ihre Zeit darauf verwenden, durch die Stadt zu ziehen und diese Graffities von den Hauswänden zu kratzen, anstatt Freiheitssehnsüchtige Demonstranten zu malträtieren. Auch im Iran steht ein unerbittliches Gottesregiment der einfachen Bitte und Forderung nach Menschlichkeit entgegen. Vermeintlich göttliches Recht zeitigt Unrecht, Leid und Unmenschlichkeit, Unfreiheit dazu und Gewalt bis zum Krieg.

 

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„Walk a Mile in My Shoes!” Damit wir den Schmerz und die Widersinnigkeit zu begreifen, welche aus der Blasphemie in diesem Missbrauch des Namens Gottes entfaltet. „Lauft solchen nicht nach!“, warnt das Evangelium, des heutigen Tages. „Lauft solchen nicht nach, die immer schon ganz genau wissen, was der Liebe Gott will und sagen: Hier ist er, bei uns in unseren Kommandozentralen und Religionsbehörden. Lauft solchen nicht nach, denn die Gegenwart Gottes kommt anders als gedacht, und ihre Kraft ist in den Schwachen mächtig - so wie in den wehrlosen Lichtern, an die wir in der Blues-Messe erinnern, die 1989 halfen die waffenschwer bewachte Mauer des Kalten Krieges zu kippen. OK, aber das gestern. Wo aber ist diese Kraft Gottes heute in dieser Welt voller Potentaten? „Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, und könnte seine Stimme doch Raum greifen, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass wir nicht in Torheit geraten, dass in unserm Lande Ehre wohne, statt Menschenverachtung; dass Güte und Treue einander begegnen, statt Gnadenlosigkeit und Willkür, dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen und Gerechtigkeit sich unter uns ausbreite wie die die Strahlen der Sonne an einem wolkenlosen Tage.“

 

Genau darauf aber, dass wir unsere von News und Fake-News verstopften Ohren befreien und Gottes Stimme wieder hören, genau darauf aber zielt die Aufforderung des Blues: „Walk a Mile in My Shoes.“

 

Aber wie soll das gehen? Habe ich nicht schon genug zu tragen an meinem eigenen Weg? Wir haben hier bei uns wahrhaftig ausreichend Sorgen, auch ohne dass wir erst noch nach Kiew schauen, nach Charkiw, Odessa oder Mariupol, oder nach Therean, Zahedan, Reswanshar, Babol, Rascht, Amol oder in andere Städten in der Ukraine oder im Iran schauen müssen. Lasst uns darauf konzentrieren, dass der Krieg nicht zu uns überschwappt, dass wir unsere Heizkosten, Inflation und Energiewende in den Griff bekommen. Tatsächlich ist die Not der anderen ist nicht dafür da, dass wir mit einem „Schlimmer geht immer“ unsere eigenen Sorgen klein reden. Nein, der Tausch der Schuhe, von dem der Blues singt, will uns und unsere Sorgen nicht lächerlich machen, sondern er will verborgene Kräfte wecken und Ermutigung stiften, indem er unseren Blick auf den Mut der Menschen lenkt, die aller Not und Bedrohung, Gewalt und Unterdrückung zum Trotz festhalten an ihrer Menschlichkeit und nicht aufhören, ihre Würde einzufordern und ihre Stimmen erheben, und das nicht allein mit Worten, sondern auch mit Musik, so wie in den Psalmen, in den Spirituals, im Blues. Zu diesen gehört gegenwärtig der Songs „Another Love“ von Tom Odell, den die Menschen erst in der Ukraine und dann auch im Iran zu einer ihrer Hymnen für den Widerstand gemacht haben. Als ich den ich den Text zum Lied das erste Mal gelesen habe und auch, als ich das Video zum Song das erste Mal gesehen habe, war ich zunächst verwundert. Warum hat ausgerechnet dieses Lied den Weg zu einer Befreiungshymne gemacht? Das Lied erzählt nicht von Krieg und Frieden, sondern die Liebesgeschichte von einem, dem seine Liebe entgleitet. Er kommt nicht mehr heran an die Liebe von einst; zu gerne würde er zurückkehren zu dem alten Gefühl und seiner Kraft. Aber zwischen ihm und seiner alten Liebe steht „Another Love“ wie eine unsichtbare Wand. Im Video sitzt der Sänger regungslos auf einem Stuhl, singt sein Lied und reagiert nicht auf die Frau, die verzweifelt um ihn herum geht und versucht, ihn zu erreichen.

 

Was macht dieses Lied zur Befreiungshymne? Ich versuche einen Moment, in ihre Schuhe der Menschen in der Ukraine und im Iran zu schlüpfen stelle mir vor, wie sie erfüllt sind von einer Sehnsucht nach Befreiung. Befreiung von alten Strukturen, wie sie weg wollen, von der alten Liebe, dem gestern, dass sie zu fesseln versucht, wie sie auf der Suche sind nach etwas Neumen: „Another Love!“ Zugleich stelle ich mir vor, dass sie erfüllt sind von noch einer zweiten Sehnsucht. Der Sehnsucht nach einem Leben, das so etwas kennt wie Alltag; einen Alltag ohne Flucht in Luftschutzkeller und ohne den lebensgefährlichen Gang zu Demonstrationen, in denen sie doch nur fordern, was selbstverständlich sein sollte, einen Alltag, in dem Platz ist für unsere kleinen und großen Herzensdinge und damit auch für unsere glücklichen und unglücklichen Liebesgeschichten. Das macht das Herz eng, dass so ein Alltag keinen Platz haben darf, so dass die Liebe, die wir darin tragen, zu zerbrechen droht oder uns gänzlich entfach aus den Herzen gepresst wird, so dass wir austrocknen. Dagegen wehrt sich der Song, und dabei hilft, dass er eben dieses ist: einfach nur ein Pop-Song, kein Choral, kein Werk klassischer Meister, sondern schlicht dafür da, das Leben zu genießen, mal mit, mal ohne Herzschmerz, auf jeden Fall ohne Zeigefinger, stattdessen lustbetont noch im Schmerz und damit ganz in der Spur des Urvaters aller Pop-Songs, des Blues, dessen Tränen der Trauer, Einsamkeit, Verzweiflung eine Kraft birgt, so dass die Tränen der Trauer in der Musik Tränen der Freude in sich tragen.

 

Ziehen wir uns also einmal die Schuhe derer an, die in der Ukraine zunächst wider allen Schrecken festhalten am Widerstand gegen die Zerstörung ihrer Heimat, Geschichte und Zukunft, und lassen wir uns anstecken von dem Mut der Frauen im Iran und von allen, die mit ihnen auf die Straße gehen und ihr sie ihr Recht auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einfordern und in ihrem Protest nicht nur einfordern, sondern bereits leben.

 

„Walk a Mile in My Shoes!“ Damit die Inspiration all derer, die Mutig aufstehen, ihren Weg von ihnen zu uns findet und Kreise zieht in die ganze Welt findet, damit der Glauben an Kraft Gottes wächst, die in den Schwachen mächtig ist, und die Frieden stiftet, indem sei uns als Menschen aufeinander verweist, so dass wir einander Mitmenschen werden, ganz gleich, was wir glauben, woher wir kommen, wie wir aussehen, was wir besitzen. Mag sein, dass die Schuhe der mutigen und unermüdlichen Menschen in der Ukraine und im Iran uns zu groß erscheinen, so dass wir uns kaum zutrauen, in sie zu schlüpfen. Aber das muss uns nicht schrecken. Diejenigen, die diese Schuhe des Widerstands nicht nur eine Meile, sondern tagtäglich tragen müssen, haben sie sich das selbst nicht ausgesucht. Sie sind keine Heldinnen und Helden aus Überzeugung oder eigener Wahl, sondern aus einer Notwendigkeit, auf die sie gerne verzichten würden. So sind sie uns viel näher, als wir meinen: in der Sehnsucht nach einem Neuanfang und zugleich diesem Alltag, von dem wir gesprochen haben: die Sehnsucht nach einem Leben, in dem ein Pop-Song und seine die Tränen über ein gebrochenes Herz nach dem Ende der ersten Liebe und Gewicht haben dürfen, so dass diese Tränen reichlich fließen dürfen, um das Herz zu befreien und den Weg zu etwas Neuem zu eröffnen, in dem sich die Tränen der Trauer in der Freude verwandeln, wenn wir nach der Dunkelheit und Kälte des Winters und den neuen Frühling begrüßen und uns über Narzissen freuen und ahnen, dass in ihren Farben Gott mitten unter uns ist, so dass in allen Ländern Ehre wohnt, wie unser heutiger Psalm das formuliert, das ist Gottes Bekenntnis zur Würde aller Menschen: dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen, Gerechtigkeit vom Himmel schaue und unsere Länder Frucht geben für uns und unsere Kinder und noch unzählige Generationen. So erfüllen wir den großen Wunsch der Menschheit aus der Rede die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi von 2003 und durchbrechen den Kreislauf von Gewalt, Terrorhandlungen und Kriegen und sorgen dafür, dass die ganze Menschheit, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Nationalität oder sozialer Stellung, in den Genuss aller Menschenrechte kommt.“

 

„Walk a mile in my shoes!“ - und begreife den Ernst der Aufgabe, die uns aufgetragen ist in diesen Zeiten, aber erfasse mit dem Ernst auch die Lust und Kraft, die darin liegt, sich auf diesen Weg der Hoffnung zu machen - mit der Hilfe des Gottes, der Mensch wurde, um im Leben und im Sterben unsere Menschlichkeit zu bewahren und aufzurichten und darin unseren Glauben und unsere Zuversicht zu erneuern in die Macht der äußerlich Machtlosen, so dass Kerzen Mauern stürzen und Pop-Songs die Mächtigen erzittern lassen.

 

Das alles ist aber nicht bloß ein schöner Traum, sondern die Wahrheit unseres Lebens: „Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Amen.

 


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Die Hauptkirche St. Katharinen ist ein Ort der Ruhe inmitten einer lauten Stadt.
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